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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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verwirrt mich, ehrlich gesagt. Ich sehe mit geschlossenen Augen. Ich finde keine Ruhe mehr.«
    Was siehst du, wenn du die Augen geschlossen hältst?
    »Vieles. Ich sehe, wie der Erdboden sich öffnet, und ich sehe das Feuer, das darunter ist. Es fließt in den Abgründen wie heißes Blut durch die Adern eines Riesen. Gegenüber, auf der anderen Seite des tiefen Spalts, steht ein Mann, gerüstet. Seine Haut ist dunkel, sein Blick brennt und mit tiefer Stimme ruft er mir etwas zu. Ich verstehe es nicht, aber ich glaube, es ist ein Gruß oder vielmehr ein Schwur. Ich fühle mich dem Mann verbunden, als würden wir uns lange kennen, als hätten wir eine gemeinsame Vergangenheit. Er hebt den Arm, er hält eine Axt. Hinter ihm sehe ich ein Heer aufmarschieren, es sind Tausende, Abertausende Kämpfer. Sie sind dunkelhäutig wie ihr Heerführer, in ihren Augen brennt ein Feuer wie in seinen. Ich weiß, sie ziehen für mich in die Schlacht, sie streiten für meine Rache. Ich sehe außerdem eine ferne Stadt, ich erblicke die zwei Türme   – ich habe schon einmal von ihnen geträumt, ich erinnere mich aber nur schlecht   – mit ihren goldglänzenden Kuppeln. Die Türme stürzen ein, werden aufgefressen von Flammen. Und schließlich sehe ich ein Tor, es ist verschlossen. Ich kann nicht erkennen, was dahinter ist, aber ich stelle mir vor, dass sich dort das Lange Tal auftut. Wenn ich zurückkehren könnte, würde ich für Gerechtigkeit sorgen. Ich würde die Unschuldigen rächen, die der Thon gemordet hat. Ich würde ihn von seinem Thron reißen und die Clans befreien. Wir würden die Stadt niederbrennen und die Zäune eintreten. Dann käme die Freiheit zurück ins Lange Tal. Endlos ist das Grasland und der Himmel ist so weit wie nirgends sonst auf dem Kontinent. Durch dieses Gras würden wir reiten, unter diesem Himmel würden die Merzer wieder mit ihren Herden umherziehen. Frei, wie früher. Denn es ist wahr: In vergangenen Zeiten war es besser. Ich habe das immer gewusst und ich habe daran festgehalten   – auch wenn alle versucht haben, es mir auszureden.«
    Und du glaubst, wenn du durch das Tor gehen könntest, wenn du es öffnen und hindurchgehen könntest, dann kämst du nach Hause?
    »Ja.«
    Dann wird es auch so sein. Aber diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen   – sondern nur du dir selbst.
    »Wie meinst du das?«
    Ich sagte dir doch, dass es deine Entscheidung ist, deine allein. Das Solder ist zu Ende, eine neue Zeit beginnt. Öffne das Tor und dahinter wirst du dein neues Leben finden. Es wird genau das Leben sein, das du dir wünschst. Wenn du also ins Lange Tal zurückkehren willst, wenn du dich rächen willst, wenn du dein Volk befreien willst, wenn du den Thon stürzen willst   – dann tu es!
    »Einfach so? Mehr verlangst du nicht von mir?«
    Aber was sollte ich noch verlangen? Du hast doch schon so viel für mich getan, Badak-An, weißt du das nicht? Du hast mich bis hierher gebracht, bis vor das Tor. Jetzt musst du es nur noch öffnen. Öffne das Tor, für dich und für mich. Öffne das Tor und mit uns wird die ganze Welt in ein neues Zeitalter eintreten. Bist du bereit dazu?
    »Ja, das bin ich. Ich bin bereit.«
    Viele Augen waren Zeugen des Moments, in dem eine Zeit endete und eine neue begann. Aber nicht alle sahen dasselbe.
    Olphrar, erster und eifrigster Gefolgsmann des Syllenks, sah seinen Meister vom Pferd steigen und den Wolf nah zu sich befehlen. Es war Nacht, die letzte des Solders, und in der Ferne glommen rot die Flanken der Berge, die Seguriens Hauptstadt Agen umschlossen. Auch das hohe Stadttor in der Mauer vor ihnen glänzte blutrot. Auf dem Weg hierher hatte die Gefolgschaft das Umland in Brand gesetzt und der Widerschein der Feuer tanzte im Goldbeschlag des Tors. Es galt: Brennen oder Asche   – entweder die Seele entflammte für den Meister oder sie musste zerfallen. Wer, wie Olphrar, das Feuer annahm und sich ganz in den Dienst des Syllenks stellte, der spürte das Leben wie nie zuvor. Heiß brannte der Funke in seiner Brust und nur der Meister selbst würde diesen glühenden Lebenswillen auslöschen können. Aber das tat er nicht, im Gegenteil: Er schenkte ihnen weitaus mehr als ein neues Leben   – der Meister schenkte ausgerechnet ihnen, den vom Rest des Landes verachteten, den verschmähten Finsterlingen, den Vertriebenen, den Dürstenden eine neue Heimat. Sie brauchten nicht mehr in der Wüste zu sitzen und auf das Wasser zu hoffen, das doch nicht kam. Sie sollten das

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