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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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ausgestrecktem Arm in Richtung der breiten Prachtstraße, die auf den Platz mündete. Estrid stand vor Erstaunen der Mund offen: Konnten die Jungen also doch sprechen! Warum taten sie es dann sonst nicht?
    Weil es Belendra missfiel, das war ihr deutlich anzusehen. Immer noch aufgewühlt von der Begegnung mit den weiß gekleideten Soldaten, machte sie nun einen Schritt zum Knaben hin, die Hand wie zum Schlag erhoben, geriet dabei aber ins Taumeln. Um Gleichgewicht bemüht, griff sie um sich, bekam Estrids Schleier zu fassen, packte zu. Und riss ihn ihr vom Kopf. Von Stoff und Bändern befreit, fielen Estrids lange Haare ihr in einer leuchtend roten Kaskade bis auf die Hüften. Und so, mit aufgelösten Haaren und überfordert von all dem, was um sie herum geschah, begegnete Estrid dem Fürsten und seinem Leibgardisten Sardes zum ersten Mal.
    Estrid sah zwei Männer zu Pferd, gefolgt von berittenen Soldaten. Die Menschen auf dem Platz wichen vor ihnen zurück und senkten ehrerbietig die Köpfe, als die Reiter vorbeitrabten. Estrid nicht, sie stand aufrecht da und schaute. Sie sah kurzes, dunkles Haar und eine hohe Stirn. Sah wasserblaue, verständige Augen und einen sanften Mund. Sie sah ein kostbar besticktes Wams, das nicht richtig geknöpft war, und rote Lederhosen, die aus den Stiefeln rutschten. Und sie sah eine mit einem goldenen Ring geschmückte Hand, die die Zügel losließ, sich zur Faust formte und sich auf die Brust legte. Der Fürst grüßte sie auf Welsenart, nur kurz, dann war er vorüber. Aber dieser Gruß, einEcho aus der Heimat, ging Estrid durch und durch und sie erwiderte ihn. Er jedoch war schon weiter und sah es nicht mehr.
    Der andere Mann allerdings sah es wohl, der Greis, der dicht hinter dem Fürsten ritt und so steif im Sattel saß, als wäre er aus Holz. Ihn schien Estrids Anblick zu verstören. Ein wehmütiges Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht, gleichzeitig blickten die hellen Augen tieftraurig unter buschigen, weißen Brauen hervor. Estrid nahm die Faust vom Herz, ließ den Arm sinken.
5
    Aber nicht nur die beiden Männer hatten die Welsin mit dem flammend roten Haar bemerkt. Auch zwei Frauen waren von Estrids Anblick beeindruckt: Am oberen Ende der Treppe zur Hama, schon verborgen im Schatten des hohen Eingangsportals, fühlte Gilmen einen Riss in der Zeit. Seit zur Kremlid die Undae und die Welsen in die Stadt gekommen waren, seit Nendsing verschwunden war   – ihre geliebte kleine Nen –, waren die Dinge in Bewegung geraten, sie lebten in einer Zeit des Umbruchs, Belendra hatte vollkommen recht. Aber erst heute, gerade eben, konnte Gilmen erkennen, in welche Richtung es gehen würde: dem Ende zu. Denn auf dem großen Platz, im Herzen von Pram, stand eine Frau, deren Haare zu brennen schienen, wie die Asings gebrannt hatten.
    Estrids feuerrote Haarpracht   – glänzend und leuchtend in der Nachmittagssonne wie nie zuvor   –, war für die Gelehrte ein Menetekel, der letzte Hinweis darauf, dass das Ende näher rückte. Die Schuld, die Pram sich in der Vergangenheit aufgeladen hatte, musste bald beglichen werden. Und es war Pram, das reiche Pram, das dieses Mal nicht wie sonst davonkommenwürde, sondern zahlen musste. Die Welsen hatten längst für alle Schuld gebüßt   – Pram nicht. Aber hier war Asing vernichtet worden. Hierher würde sie zurückkommen und Vergeltung fordern.
    Bei diesen Gedanken schlang Gilmen die Arme fest um ihren zierlichen Körper. So heiß dieser späte Lendern auch war, sie fröstelte. Lange hatten viele von ihnen geahnt, dass Asing wiederkehren würde. Allein wie das vonstattengehen sollte und wo, da waren die Seguren uneins gewesen. Nendsing hatte steif und fest behauptet, die legendäre Adeptin würde als Schweifstern auf die Erde niederfallen, und zwar in Agen. Gilmen hatte über die offensichtlichen Fehler in den Berechnungen hinweggesehen. Weil sie nicht sehen wollte. Und weil sie Nendsing wie eine Tochter liebte. Doch nun hatte ihre Tochter sie verlassen und Gilmen konnte die Augen nicht länger verschließen: Hier in Pram hatte Asing gebrannt, hier in Pram hatte sie ihre menschliche Gestalt verloren. Hierher würde sie zurückkehren, da war sich Gilmen nun sicher   – und diese Gewissheit war Estrids Verdienst. Nein, die Welsin konnte nichts für die Farbe ihrer Haare. Und nein, sie konnte auch nichts für das Schicksal, das sich für Pram erfüllen musste. Estrid selbst war ganz unschuldig, sie war nur ein Augenöffner, hatte die

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