Zwölf Wasser
sie, und ließ ihren Blick die Bücherregale emporwandern. Hier können sie sich bewegen, umherstreifen und einen berühren.
Licht fiel durch eine verglaste Kuppel in den kreisrunden Saal; von runden Holztischen umgeben, stand in der Mitte eine Art niedriger, hölzerner Turm: Hier thronte die Aufsicht. An den über vierzig Tischen saßen, lasen, arbeiteten teils mehrere Personen – und da sollte Estrid sich hinzugesellen? Sie senkte den Blick, ballte die Fäuste und versuchte, gegen die aufkommende Panik anzukämpfen.
»Kommt«, sagte Belendra, nahm Estrid bei der verkrampften, schweißfeuchten Hand und schritt zu deren Erleichterung an den Tischen vorbei auf die erste Reihe der hohen Bücherregale zu. Einige Köpfe hoben sich, die Aufsicht verfolgte sie mit festem Blick. Belendra scherte sich um nichts. Zwischen den Regalen, die die Lesetische umgaben wie ein Stadtring nach dem nächsten den Marktplatz, war es dunkler. Estrid roch Leder und Staub. Sie verließen den zentralen Gang, drangen tiefer ins Regallabyrinth ein. Durch enge und niedrige Durchlässe konnte man in den nächsten Bücherring wechseln. An den Regalen lehnten Leitern, die Gänge wurden von roten Leuchten mehr schlecht als recht erhellt. Belendra fand sich dennoch zurecht, sie musste bereits oft hier gewesen sein. Schließlich machte sie Halt, fuhr mit den Fingerspitzen über die Bücherrücken.
»Also gut … dies hier müsste etwas für Euch sein, ebenso das hier.«
Sie zog die Bücher heraus und reichte sie Estrid. Auf den ersten Blick schien es sich um Werke zu handeln, die sich mit Rechtsprechung oder Kriegsführung beschäftigten – oder mitder Rechtsprechung zu Zeiten des Krieges beziehungsweise Kriegsrecht. Estrid kniff die Augen zusammen … Nein, sie verstand nicht ganz, um was es ging, dafür reichte ihr Pramsch noch nicht aus. Als Belendra von ›spannenderen‹ Büchern gesprochen hatte, hatte Estrid nicht derart theoretische Schriften erwartet. Sollte sie sich im Ernst als Welsin zwischen die Pramer und Seguren setzen und über Kriegsführung lesen? Was dachte Belendra sich dabei, warum diese Art Bücher? Sie zupfte mit einer Hand an dem Schleier herum, der ihr langes Haar bedeckte und ihr ansonsten zu freizügiges Gewand komplettierte. Am Berg wäre man nie auf die Idee gekommen, so viel Haut zu zeigen. Denn selbst wenn es im Lendern ein oder zwei Zehnen lang warm genug wäre für ärmellose Kleider, verbrannte die nahe, klare Sonne jeden ungeschützten Flecken Haut. Außerdem war es einfach unschicklich, so viel von sich preiszugeben. Wieder zog Estrid am Schleier, aber ihre Schulter konnte sie nicht damit bedecken.
»Das dürfte vorerst reichen.« Belendra hatte nun auch selbst den Arm voll schwerer Bücher.
»Belendra, ich glaube nicht, dass ich –«
»Scht, hier wird nicht gesprochen.«
Estrid versuchte, den aufflammenden Zorn zu ersticken. Sie dachte an Ristra und Strem und wie gut sich beide entwickelten. Es gab kein anderes Leben mehr als das in Belendras Haus, deshalb: keine Widerworte.
Es waren auch keine nötig, denn Belendra hatte nicht die Absicht, sich zu den anderen Lesenden zu gesellen – Estrid hätte ahnen können, dass diese Umgebung und Gesellschaft Belendras Ansprüchen nicht genügte. Sie würden die Bücher aus der Bibliothek tragen, einfach so. Aber als sie den Lesesaal fast durchquert hatten, stellte sich ihnen die Aufsicht entgegen. Die Frau musste ungefähr in Estrids Alter sein, aber sie war ungleichschöner, liebreizender, zierlicher. So kam es Estrid jedenfalls vor; sie selbst fühlte sich grobknochig und geradezu abstoßend groß im Vergleich zu der Segurin. Belendra, ebenfalls größer und vor allem üppiger als die Bibliothekarin, schien von deren Anmut unbeeindruckt.
»Dild, ich bin immer wieder erfreut zu sehen, dass Ihr auch Beine habt. Manchmal könnte man glauben, Ihr seid nur die obere Hälfte, die über die Brüstung Eures Türmchens schaut.«
»Ich bin mir sicher, Belendra, Ihr wisst sehr gut, dass Ihr diese Bücher nicht ausleihen könnt. Es sind seltene Abschriften, von unschätzbarem Wert.«
Die Segurin blieb zuvorkommend, aber Estrid sah, wie sich die zarten Wangen röteten. Bevor Belendra antworten konnte, trat eine weitere Frau zu ihnen. Sie war deutlich älter, trug das graue Haar streng zurückgekämmt und im Nacken zusammengebunden. Aber während das Alter die Welsen am Berg zerfurchte und auszehrte, war diese Segurin von der Vielzahl der Soldern nicht
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