Zwölf Wasser
wusste es nicht. Sie konnte nicht im Schweigen der Pramerin lesen, dazu war Estrid zu unerfahren.
Belendra hob das Kinn und sagte: »Bote! Das Schwitzen hat sich gelohnt, du kannst dem Trosser Folgendes überbringen, und zwar wortwörtlich: Belendra nimmt die Einladung an und wird zur ersten Hafnacht in Begleitung von Estrid von den Randbergen an der Tafel des Fürsten auf dem Platz sitzen, den sie seit Soldern nicht in Anspruch genommen hat, obwohl er ihr bis über den Tod hinaus zusteht.«
7
»Sie werden nur Euch anstarren, ich bin unsichtbar in Eurer Nähe, Estrid. Ihr leistet einen unbezahlbaren Dienst.«
Belendra nahm keine Rücksicht auf Estrids Nervosität und unsichtbar war sie keineswegs. Belendra schimmerte im warmen Licht der roten Lampen und unzähligen Kerzen wie eine schwarze Perle. Ihr dunkles Haar war in schweren Schlingen aufgetürmt und glänzte wie angefeuchtet; ihr Kleid formte ihre Üppigkeit derart, dass man sich hätte darin versenken mögen. Der Stoff war, ganz untypisch für das Rot und Gold liebende Pram, von dunkelgrüner Farbe, was in Verbindung mit dem rötlichen Licht ein irritierend unbestimmbares, tiefes Meergrau ergab. Estrid war ganz in Schwarz. Zuerst war sie erleichtert gewesen, als sie bei der Anprobe bemerkt hatte, dass ihr Gewand hochgeschlossen war. Aber wie so oft hatte sie Belendra unterschätzt. Nach der letzten Änderung umschloss das Kleid Estrids Gestalt wie ein Handschuh und verriet so jedes Detail ihres Körpers; die Schneiderinnen hatten sie für diesen Abend in das Gewand einnähen müssen. Das schwarzsamtene Gewebe schien alles Licht zu verschlucken und alle Blicke anzusaugen. Estrid fühlte sich wie ein Abgrund, vor dem alle zurückschreckten, in den sie aber doch hineinsehen mussten. Noch auffälliger als das enge schwarze Kleid aber waren, wie konnte es anders sein, Estrids Haare. In stundenlanger Prozedur waren sie von den Knaben gebürstet, mit feinen Goldfäden durchwirkt und schließlich mit einem glitzernden Edelsteinstaub überpudert worden.
»Sträubt Euch nicht, dies ist Euer einziger Schmuck«, hatte Belendra gesagt, während sie sich eine Kette nach der anderen umlegen ließ, bis ihr ein goldener Wasserfall zwischen den Brüsten hinabrieselte.
Im Spiegel der nachtdunklen Glasfenster sah Estrid nun zwei Frauen durch die Empfangshalle des Palasts schreiten, die fremdartig wirkten, zwei düstere Sonnen am glühenden Abendhimmel. Eine der Frauen trug ihre langen roten Haare wie eine wehende Fahne hinter sich her: Seht und nehmt euch in Acht! Eine Welsin ist unter euch!
Nichts anderes hatte Belendra beabsichtigt. Zwar zog auch sie selbst, der seltene, kapriziöse Gast, Aufmerksamkeit auf sich. Aber der ganze große Rest galt Estrid. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals und machte ihr die Kehle eng; ihre Hände waren klamm. Anders als im Garten glaubte sie nun nicht mehr daran, dass sie zum Fürsten vorgelassen würde, und die Vorstellung, ein Wort für ihr Volk einlegen zu können, schien ihr völlig absurd. Warum tat sie sich das hier nur an? Und warum tat Belendra ihr das an? Die Welsen bedeuteten ihr nichts.
»Klappt mir ja nicht zusammen«, raunte Belendra ihr im Gehen zu. »Versucht, es zu genießen. Nützt es, wenn ich sage, dass Euer Anblick einen das Atmen vergessen lässt?«
Sie blieb stehen, nahm Estrids feuchtkalte Hände in ihre, die warm und weich waren. Ihre Stimme war dunkel und sanft.
»Ich werde niemals den Morgen vergessen, Estrid, als ich Euch das erste Mal sah, in diesem heruntergekommenen alten Gasthof in der Lagerstadt. Es stank erbärmlich dort und Ihr habt auch gestunken, ehrlich gesagt. Aber Euer Stolz hat Euch schön gemacht. In all dem Dreck stand eine dürre Frau in Lumpen – und hat mich zutiefst beeindruckt. Trotzig und wütend wart Ihr, Estrid, und Ihr wart einsam. Aber nicht verängstigt! Lasst Euch doch von all dem Glanz hier nicht blenden! Zeigt Pram, woraus die Welsen gemacht sind. Glaubt Ihr, einer dieser angeblich so wichtigen Männer hier würde auch nur einen einzigen Firstensturm oben in Goradt überstehen? Wie viele habt Ihr erlebt, hm? Ihr seid stark, Estrid, erinnert Euch daran.«
Belendras Augen waren weit und feucht, sie hatte dem Weißglanz tüchtig zugesprochen. Aber sie hatte recht, Estrid musste sich auf sich besinnen, auf ihre Stärken. Sie schloss die Lider, atmete einige Male tief ein und aus. Sie sah den grauen Fels, den ewigen Schnee auf den Gipfeln und darüber den stählernen Himmel, klar und
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