Zwölf Wasser
bekommen. Vielleicht war das besser so, Estrid musste mit der alten Heimat endlich abschließen. Sie sollte sich ein Beispiel an Ristra nehmen.
»Für mich nicht.« Belendra hob dankend die Hand. Sie schwieg, bis Estrid sich ihr gegenübergesetzt hatte. Dann fragte sie: »Wie kommt Ihr mit dem Pramsch voran?«
»Gut, glaube ich.«
» Sehr gut, glaube ich. Wir werden Euch mehr Bücher besorgen. Andere, spannendere Bücher. Morgen werden wir die Hama aufsuchen.«
Estrid nahm einen Schluck, es schmeckte scheußlich. Sie waren erst ein Mal ins Zentrum gefahren und sie war derart überwältigt gewesen von der Fülle der Stadt, dass sie einen Schwächeanfall erlitten hatte.
»Ich brauche keine neuen Bücher«, sagte Estrid.
»Ach, tut nicht so bescheiden, Ihr habt das meiste bereits mehrfach gelesen. Ihr seid ein Esunian.«
»Ein was?«
»Nun, etwas – oder besser: eine –, die alles aufsaugt. Ihr habt noch viel zu lernen, aber Eure Fortschritte sind beachtlich. Die der Kinder ebenso.«
Das stimmte. Ganz besonders Strem, den Belendra behandelte wie einen kleinen Prinzen, ließ sich von ihr ununterbrochen Worte vorsagen. Sobald er Belendra sah, streckte er die Arme aus und wollte hochgenommen werden. Dann musste sie ihn herumtragen, er deutete mit seinem Händchen auf etwas und sagte: »Da?«
»Vogel.«
»Vohgl. Da?«
»Käfer.«
»Kehfah. Da?«
Er würde nicht Welsisch, sondern Pramsch als Muttersprache haben, wenn Estrid nicht dagegen anging. Aber wollte sie das denn? Zuerst schon, da hatte sie alles Welsische aus ihrem Leben verbannen wollen – sogar Borgers Blechschwert hatte sie Ristra abgenommen, was ihre Tochter in tiefe Verzweiflung gestürzt und Estrid tagelang abweisende Blicke und Schweigen eingebracht hatte. Sie musste schließlich einsehen, wie ungerecht es war, das Kind zu bedrücken, bloß weil sie selbst gepeinigt wurde: Estrid litt an Heimweh. Sie fühlte sich so einsam, so entwurzelt, dass sie kaum Luft holen konnte, ohne zu schluchzen. Sie schloss die Augen und hörte die Stimmen ihres Bruders, ihres Vaters, sah dessen große, narbige Hände und den schweren Meisterring. Estrid blickte ins Gesicht ihres Sohnes und sah: Felt. Jeden Tag wurde Strem ihm ähnlicher und jeden Tag wurde Estrid das Herz schwerer. Sie konnte ihre Sehnsucht nicht verleugnen, sondern musste sie hinnehmen. Irgendwann hatte Estrid ihrer Tochter das Schwert dann wieder zurückgegeben. Ristra trug es aber nicht mehr täglich, sondern vergaß immer öfter, es am Morgen umzugürten. Nicht ein einziges Mal fragte sie nach dem Vater, als ob sie ahnte, dass diese Frage in Estrid eine Wunde aufreißen würde, die sich gerade zu schließen begann. Felt zu vergessen war unmöglich. Ihn in der Erinnerung einzusperren, das gelang vielleicht. Und Strem zwei Muttersprachen mitzugeben, das müssteauch gelingen. Estrid sprach nur Welsisch mit ihm. Abend für Abend erzählte sie ihm Geschichten vom Schnee, von eisklarer Luft und vom Berg. Er sprach nichts nach, aber seine runden grauen Augen hingen an Estrids Lippen. Die Heimat vergessen, auch das war nicht möglich. Aber damit abzuschließen und neu zu beginnen, das hatte sich Estrid nun zum Ziel gesetzt.
»In die Hama wollt Ihr also gehen? Darf ich denn dort überhaupt hinein?«
Belendra lachte auf.
»In meiner Begleitung? Selbstverständlich! Estrid, ich weiß, wie stolz Ihr seid. Also hört auf, mir gegenüber die Schüchterne zu spielen. Wir sind keine Freundinnen und werden es wohl auch nie werden. Aber das bedeutet nicht, dass Ihr mich anlügen müsst.«
»Ich lüge nicht.«
Estrid sah Belendra geradeheraus an.
»Das will ich hoffen.«
Sie kniff den schlafenden Knaben sanft in die Wange, um ihn aufzuwecken. »Wir werden zeitig aufbrechen und ich werde Euch persönlich beim Ankleiden helfen. Ich habe Euch etwas besonders Schönes machen lassen.«
Estrid nickte nicht einmal, als Belendra die Küche verließ. Diese Frau duldete keinen Widerspruch und erwartete keine Zustimmung. Am besten, man tat einfach schweigend das, was Belendra wollte.
3
Im Innern des Gebäudes war es angenehm kühl und sie atmete auf. Es war vor allem die ungewohnte Hitze in Pram, die Estrid zu schaffen machte. Über dem Pflaster des großen Platzes standdie Luft und sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet der Wind ihr fehlen würde. Im großen Lesesaal der Hama regte sich zwar auch kein Lüftchen, Estrid spürte aber dennoch einen Hauch. Das müssen all die Gedanken sein, überlegte
Weitere Kostenlose Bücher