Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
freien Entscheidung. Es ist etwas, das eine Medizinfrau tun muß. Es ist etwas in mir. Ein Teil meines Geistes ist bereits in der nächsten Welt" - Ayla griff nach dem Amulett an ihrem Hals - "und damit den Geistern der Leute verpflichtet, die auf meine Hilfe angewiesen sind. Es ist schwer zu erklären. Aber ich kann nicht zulassen, daß Attaroa weiter ihre Macht mißbraucht. Und dieses Lager wird Hilfe nötig haben, wenn die Männer aus dem Pferch befreit sind. Ich muß
bleiben, solange man mich braucht."
S'Armuna nickte. Sie glaubte, Ayla verstanden zu haben. Sie verglich ihr Bedürfnis, zu heilen und zu helfen, mit ihrer eigenen Berufung, der Mutter zu dienen, und fühlte sich eng mit ihr verbunden.
"Wir bleiben, solange wir können", berichtigte Jondalar. Er dachte daran, daß sie in diesem Winter noch einen Gletscher überqueren mußten. "Doch wie können wir Attaroa dazu bringen, die Männer freizulassen?"
"Sie fürchtet dich, Ayla", sagte die Schamanin. "Und ich glaube, die meisten ihrer Wolfsfrauen auch. Diejenigen, die dich nicht fürchten, verehren dich. Die S'Armunai sind ein Volk der Pferdejäger. Wir jagen auch andere Tiere, aber wir kennen die Pferde. Im Norden gibt es eine Klippe, über die wir schon seit Generationen Pferde getrieben haben. Du kannst nicht leugnen, daß deine Gewalt über Pferde auf einem mäch-tigen Zauber beruht. Er ist so mächtig, daß man ihm kaum Glauben schenken mag, selbst wenn man ihn wirken sieht."
"Das hat nichts mit Zauber zu tun", entgegnete Ayla. "Ich habe die Stute schon als Fohlen aufgezogen. Ich lebte allein, und sie war mein einziger Freund. Winnie tut, was ich will, weil sie es selber will, weil wir Freunde sind."
Sie sprach den Namen als ein sanftes Wiehern aus - mit dem Laut, den Pferde machen. Weil sie so lange mit Jondalar und den Tieren allein gereist war, hatte sie wieder die Gewohnheit angenommen, Winnies Namen in der ursprünglichen Form auszusprechen. Das Wiehern aus dem Mund der Frau erschreckte S'Armuna, und die Idee, mit einem Pferd befreundet zu sein, überstieg ihre Vorstellungskraft. Es spielte keine Rolle, daß Ayla behauptet hatte, es sei kein Zauber. Sie hatte ihr bewiesen, daß es nichts anderes war.
"Vielleicht", sagte die Frau. Wie einfach du es auch darstellen magst, dachte sie, du kannst die Leute nicht hindern, darüber nachzudenken, wer du wirklich bist und was dich hierher-geführt hat. "Die Leute denken - und hoffen -, daß du gekom-men bist, um ihnen zu helfen", fuhr sie fort. "Sie fürchten
Attaroa. Aber ich glaube, mit deiner und Jondalars Hilfe können sie sich gegen sie erheben und sie zwingen, die Männer freizulassen. Sie können dazu gelangen, sich nicht mehr von ihr einschüchtern zu lassen."
Ayla hatte das starke Bedürfnis, die Hütte zu verlassen, deren Atmosphäre ihr unbehaglich geworden war. "Wir müssen nach den Pferden sehen", sagte sie und stand auf. "Können wir die Körbe hier stehenlassen?" Sie hob einen Deckel hoch und prüfte den Inhalt. "Es ist schon kalt geworden. Schade, daß wir es nicht warm auftischen können. Es würde viel besser schmecken."
"Natürlich, laß sie hier", sagte S'Armuna. Sie hob den Becher an die Lippen und trank ihren Tee aus, während die beiden Fremden sie verließen.
Vielleicht war Ayla keine Verkörperung der Großen Mutter und Jondalar wirklich Marthonas Sohn; aber die Vorstellung, daß die Mutter eines Tages Vergeltung üben könnte, lastete schwer auf Der, Die Der Mutter Diente. Schließlich war sie S'Armuna. Sie hatte ihre persönliche Identität um der Macht der Geister willen aufgegeben, und dieses Lager war ihr anvertraut, mit all den Leuten, Frauen und Männern. Ihre Aufgabe war es, die Unverletzbarkeit des Zaubers zu hüten, der dieses Lager schützte; die Kinder der Mutter waren auf sie angewiesen. Nach Ansicht der Außenseiter - eines Mannes, der gekommen war, um sie an ihre Berufung zu erinnern, und der Frau mit den ungewöhnlichen Kräften - hatte sie, wie S'Armuna wußte, diese Aufgabe verraten. Sie hoffte nur, daß es noch möglich war, die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, zu begleichen und das Lager wieder zu dem zu machen, was es einmal war.
32. KAPITEL
S'Armuna trat vor ihre Hütte und beobachtete die beiden Fremden, die zum Rand des Lagers gingen. Ihr fiel auf, daß sich Attaroa und Epadoa, die vor der Behausung der Anführerin
standen, umgedreht hatten und ihnen ebenfalls nachschauten. Die Schamanin wollte gerade wieder hineingehen, als
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