Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
wohin sie trat; Ayla jedoch folgte aufmerksam seinen Fußstapfen. Sie umkreisten das Becken und die heiße Quelle, stiegen über die kalte Wasserrinne und einen tiefen Abfluß-graben. Beim zweiten Rundgang begann Losaduna mit eintöniger Stimme zu singen und die Mutter mit Namen und Titeln anzurufen.
"O Duna, Große Erdmutter, Große und Gütige Ernährerin, Große Mutter allen Lebens, Erste Mutter, Segnerin aller Frauen, Mitfühlende Mutter, erhöre unser Flehen." Der Mann wiederholte die Anrufung immer wieder, während sie das Wasser zum zweiten Mal umkreisten.
Als er sich mit dem linken Fuß zwischen die parallelen Linien der Ausgangsmatte stellte, um die dritte Runde zu beginnen, fuhr er nach dem Satz "erhöre unser Flehen" so fort: "O Duna, Große Erdmutter, eins deiner Geschöpfe hat Schaden genommen. Eine, die dir gehört, ist verletzt worden. Eines
deiner Geschöpfe muß gereinigt werden, um deinen Segen zu empfangen. Große und Gütige Ernährerin, eins deiner Ge-schöpfe braucht deine Hilfe. Sie muß genesen. Erneuere sie. Große Mutter allen Lebens, und laß sie die Freuden deiner Gaben kennenlernen. Hilf ihr, Ursprüngliche, die Riten der Ersten Wonnen zu empfangen. Hilf ihr. Erste Mutter, deinen Segen anzunehmen. Mitfühlende Mutter, hilf Madenia, Tochter von Verdegia, Kind der Losadunai, der Erdenkinder, die bei den hohen Bergen leben."
Ayla war von den Worten und von der Zeremonie tief bewegt; sie glaubte, auch, bei Madenia Anzeichen von Teilnahme zu entdecken, die sie froh stimmten. Nach dem dritten Rundgang führte Losaduna sie mit ganz bestimmten Schritten und unter weiteren Bittgesängen vor den Steinaltar, wo die drei Lampen die kleine Mutterfigur erleuchteten. Neben einer der Lampen lag ein messerartiger, aus Knochen geschnitzter Gegenstand. Er war ziemlich breit, zweischneidig und hatte eine leicht abgerundete Spitze. Losaduna nahm ihn in die Hand und führte sie an das Feuer.
Sie setzten sich mit Blick auf das Becken um das Feuer und nahmen Madenia in ihre Mitte. Losaduna tat ein paar braune Brennsteine in die Flammen. Dann nahm er aus einer Nische an der Seite der erhöhten Plattform eine Schale, füllte sie mit Wasser aus einem kleinen Beutel, der sich auch in der Nische befand, fügte aus einem kleinen Korb getrocknete Blätter hinzu und stellte die tönerne Schale auf die heiße Glut.
Dann malte er etwas auf einen von Filzmatten umrahmten Fleck feiner, trockener Erde. Plötzlich verstand Ayla, wozu das knöcherne Gerät diente. Die Mamutoi hatten einen ähnlichen Gegenstand benutzt, mit dem sie Zeichen in die Erde ritzten, um sich zum Beispiel Punkte beim Spiel zu merken, Jagdzüge zu planen oder Geschichten mit Bildern zu illustrieren. Auch Losaduna benutzte das Messer, um eine Geschichte zu beschreiben, doch keineswegs zur bloßen Unterhaltung. Er erzählte sie in dem eintönigen Singsang, in dem er auch seine Bitten vorgebracht hatte, und zeichnete dabei Vögel, um die wichtigsten Punkte zu unterstreichen und zu bekräftigen. Bald verstand Ayla, daß die Geschichte eine allegorische Nacherzählung des Angriffs auf Madenia war, in der die Vögel die Beteiligten darstellten.
Die junge Frau nahm nun wirklichen Anteil und identifizierte sich mit dem jungen, weiblichen Vogel, von dem er sprach; dann brach sie plötzlich in lautes Schluchzen und Weinen aus. Daraufhin wischte der Eine, Der Der Mutter Diente, mit der stumpferen Seite des Zeichenmessers die ganz Szene aus.
"Es ist vorbei! Es ist nie geschehen", sagte er und malte nur ein Bild des jungen Vogels. "Sie ist wieder so, wie sie am Anfang war. Mit Hilfe der Mutter, Madenia, wird es verschwunden sein, als wäre es nie geschehen."
Ein stechender Minzegeruch, den Ayla nicht recht erkennen konnte, zog durch das dampfende Zelt. Losaduna prüfte das Wasser auf den Kohlen und reichte Madenia einen Becher davon. "Trink!" sagte er.
Noch ehe Madenia widersprechen konnte, hatte sie das Wasser schon herunterschluckt. Er schöpfte noch einen Becher für Ayla und einen für sich selbst. Dann stand er auf und führte sie zum Becken.
Losaduna ging langsam, aber ohne zu zögern, in das dampfende Wasser hinein. Madenia folgte ihm blindlings -und Ayla auch. Doch als sie einen Fuß in das Wasser tauchte, zog sie ihn erschrocken wieder zurück. Es war heiß! Fast kochend heiß. Nur mit großer Willensanstrengung zwang sie sich, den Fuß wieder in das Wasser zu senken, und stand dann eine Weile still, bevor sie einen weiteren Schritt wagte. Ayla
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