Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
geschmückt. In weiter Ferne leuch-tete im strahlenden Licht des azurblauen Himmels das Antlitz einer steilen Felswand, mit Höhlen übersät und mit dunklen Streifen gemasert. Glitzerndes Sonnenlicht spiegelte sich in dem Fluß, der am Fuße des Felsens entlangströmte und den Umrissen des Kliffs folgte.
Ungefähr in der Mitte des grünen Feldes, das sich vor dem Fluß ausbreitete, stand ein Mann und beobachtete sie, ein Mann vom Clan. Dann drehte er sich um und strebte zügig, obwohl er am Stock ging und einen Fuß nachzog, auf das Kliff zu. Auch wenn er kein Wort sagte und kein Zeichen gab, wußte sie, daß sie ihm folgen mußte. Sie eilte auf ihn zu, und er schaute sie mit seinem gesunden Auge an. Es war braun und feucht vor Mitgefühl und Stärke. Sie wußte, daß sein
Bärenfellumhang den Stumpf eines Armes verbarg, den man ihm abgenommen hatte, als er noch ein Junge war. Seine Groß-mutter, eine Medizinfrau von weithin bekanntem Ruf, hatte das gelähmte Glied abgeschnitten, als es brandig wurde, nachdem er von einem Höhlenbären angefallen worden war. Bei dieser Begegnung hatte Creb auch sein Auge verloren.
Als sie sich der Felswand näherten, bemerkte sie ein seltsames Gebilde auf einem Felsüberhang. Ein säulenförmiger Felsblock, dunkler als die beigefarbene Kalksteinumgebung, lehnte über dem Rand, als wäre er festgefroren, bevor er herabstürzen konnte. Der Stein vermittelte nicht nur das beunruhigende Gefühl, er könne jeden Augenblick herabstürzen; sie wußte auch, daß er sie an etwas erinnern sollte, an etwas, was sie getan hatte oder tun sollte - oder nicht tun sollte.
Sie schloß die Augen, um sich zu erinnern. Sie sah Dunkelheit, dicke, samtige, greifbare Dunkelheit, so lichtlos, wie es nur eine tiefe Berghöhle sein konnte. In der Ferne erschien ein winziger Lichtstrahl, auf den sie sich durch einen engen Gang hindurch zutastete. Als sie näherkam, sah sie Creb zusammen mit anderen Mog-urs und verspürte plötzlich große Furcht. Sie wehrte sich gegen diese Erinnerung und schlug rasch die Augen auf...
Und fand sich am Ufer des kleinen Flusses wieder, der sich um das Kliff herumwand. Sie blickte über das Wasser und sah, wie Creb einen Pfad hochstapfte, zu dem Steingebilde hinauf, das jeden Augenblick herabzustürzen drohte. Sie war hinter ihm zurückgeblieben und wußte nicht, wie sie über den Fluß kommen sollte, um ihn zu erreichen. Sie rief ihm nach: "Creb, es tut mir leid. Ich wollte dir nicht in die Höhle folgen."
Er drehte sich um und winkte ihr in großer Eile zu. "Schnell", bedeutete er ihr vom anderen Ufer des Flusses aus, der breiter und tiefer geworden war und voller Eis. "Warte nicht länger! Beeile dich!"
Das Eis wurde immer dicker und machte ihn unerreichbar. "Warte auf mich! Creb, laß mich nicht allein!" schrie sie.
"Ayla! Ayla, wach auf! Du träumst schon wieder", sagte Jondalar und rüttelte sie sanft.
Sie schlug die Augen auf und fühlte große Verlorenheit und eine seltsam eindringliche Furcht. Sie erblickte die fellbe-deckten Wände des Wohnraums und den rötlichen Schein der Feuerstelle. Sie sah den schattenhaften Umriß des Mannes neben ihr und klammerte sich an ihn. "Wir müssen uns beeilen, Jondalar! Wir müssen sofort von hier weg", sagte sie.
"Ganz bestimmt", sagte er. "Sobald wir können. Aber morgen ist das Fest der Mutter, und dann müssen wir noch alles zusammenpacken, was wir brauchen, um das Eis zu über-queren."
"Eis!" sagte sie. "Wir müssen über einen vereisten Fluß!"
"Ja, ich weiß", sagte er und versuchte, sie zu beruhigen. "Aber zuerst müssen wir überlegen, wie wir das mit den Pferden und dem Wolf machen. Wir brauchen Proviant und müssen unterwegs Wasser für uns alle beschaffen. Dort ist alles fest gefroren."
"Creb riet zur Eile. Wir müssen gehen!"
"Sobald wir können, Ayla. Ich verspreche es, sobald wir kön-nen", sagte Jondalar mit nagender Sorge. Sie mußten den Glet-scher überqueren, sobald es irgend ging - doch vor dem Fest der Mutter aufzubrechen, war schlechthin unmöglich.
Ohne die frostige Luft zu erwärmen, flutete das gleißende Licht der späten Nachmittagssonne durch die Zweige der Bäume. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, doch Jondalar und Ayla waren immer noch auf dem Feld vor der Höhle.
Ayla hielt den Atem an, um sich durch den dampfenden Nebel aus ihrem Mund nicht die Sicht zu nehmen, und zielte sorgfältig. Sie jonglierte mit zwei Steinen in der Hand, legte einen in die Schlinge der Schleuder, wirbelte sie
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