Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
Sie stand weit unten auf einem schmalen Eissims, das aus der Wand des tiefen Grabens hervorragte. "Ayla, beweg dich nicht!" befahl er ihr, "Rühr dich nicht. Das Schneebrett kann nachgeben."
Sie lebt, dachte er. Ein Wunder! Ich kann es kaum glauben. Doch wie bekomme ich sie heraus?
Vor Angst erstarrt, lehnte sich Ayla in dem eisigen Abgrund an die Wand und klammerte sich verzweifelt an eine Kante. Ganz
in Gedanken versunken, war sie durch den Schnee gestapft, der ihr fast bis an die Knie ging. Sie war todmüde und hatte es satt: die Kälte, den mühsamen Marsch durch den hohen Schnee, den ganzen Gletscher. Der Treck über das Eis hatte ihre Energie aufgesogen, und sie war bis in die Knochen erschöpft. Während sie sich weiterschleppte, war ihr einziger Gedanke, das Ende des Gletschers zu erreichen.
Dann schreckte sie ein lautes Krachen aus ihrem Brüten auf. Ihr wurde übel, als das feste Eis unter ihren Füßen nachgab, und plötzlich erinnerte sie sich an ein Erdbeben vor vielen Jahren. Instinktiv griff sie nach einem Halt, doch sie fand keinen in den stürzenden Eis- und Schneemassen. Sie fühlte, wie sie fiel und inmitten der Eislawine fast erstickte, und spürte kaum, wie sie auf dem schmalen Sims Halt gewann.
Vorsichtig sah sie nach oben, denn sie fürchtete, daß selbst die leiseste Gewichtsverlagerung ihre unsichere Basis lockern könnte. Über ihr sah der Himmel fast schwarz aus, und sie glaubte, das schwache Funkeln der Sterne zu erblicken. Verspätete Eissplitter oder Schneewölkchen lösten sich von dem oberen Rand und überschütteten sie.
Ihr Sims war ein schmaler Vorsprung einer älteren Räche, die schon lange unter jüngerem Schnee begraben war. Sie ruhte auf einem großen Gesteinsbrocken, der sich von dem festen Felsen gelöst hatte, als das Eis langsam ein Tal füllte und über die Seiten einer angrenzenden Mulde floß. Der langsam dahinkriechende Eisfluß hatte große Massen Staub, Sand und Geröll aufgehäuft und Brocken aus dem harten Gestein herausgemeißelt, die langsam zur Mitte wanderten, wo die Strömung schneller war.
Während Ayla stillstand und wartete, hörte sie in der tiefen Eishöhle ein schwaches Rumpeln. Zuerst hielt sie es für Einbildung. Doch die Eismasse war nicht so unbeweglich fest, wie es auf der harten Oberfläche scheinen mochte. Sie ordnete sich ständig neu, dehnte sich aus, verlagerte sich. Die explosive Erschütterung einer neuen Spalte, die sich an der Oberfläche oder tief im Innern des Gletschers öffnete oder schloß, versetzte
den seltsam zähflüssigen Festkörper in Schwingungen. Der große Eisberg war von Katakomben durchlöchert: Gänge, die plötzlich zu Ende waren, lange Galerien mit vielen Windungen, die abwärts oder aufwärts verliefen, Einschlüsse und Höhlen, die sich einladend öffneten, um sich dann wieder gänzlich zu schließen.
Ayla begann sich umzusehen. Die nackten Eiswände erstrahlten in einem flüchtigen, unglaublich tiefblauen Licht. Es durchzuckte sie plötzlich, daß sie diese Farbe schon einmal gesehen hatte, nur an anderer Stelle. Jondalars Augen hatten dasselbe tiefe, leuchtende Blau! Sie sehnte sich danach, sie wiederzusehen. Die gezackten Flächen des Eises vermittelten ihr das Gefühl geheimnisvoller, vorüberhuschender Beweg-ungen außerhalb ihres Blickfeldes. Wenn sie den Kopf schnell genug drehte, würde sie flüchtige Gestalten in den Spiegel-wänden verschwinden sehen, glaubte sie.
Doch all das war Illusion, ein Zaubertrick des Lichts. Das Eis filterte die meisten Rottöne aus dem Lichtspektrum der Sonne und bewirkte damit das tiefe Blaugrün, das sich an den Kanten und Flächen brach und spiegelte.
Als ein weiterer Schneeschauer auf sie niederging, blickte Ayla nach oben. Sie sah, daß Jondalar sich über den Rand des Spaltes beugte, und dann schlängelte sich ein Seil auf sie zu.
"Binde den Strick um deine Taille, Ayla", rief er, "und gib acht, daß du ihn gut festmachst. Sag mir, wenn du fertig bist."
Er hatte es schon wieder getan, sagte sich Jondalar. Warum kontrollierte er immer, was sie tat, obwohl er genau wußte, daß sie es sehr gut allein schaffen konnte? Warum sagte er ihr im-mer, was sie tun sollte, auch wenn es sich von selbst verstand? Sie wußte, daß man ein Seil gut festbinden mußte.
"Ich bin soweit, Jondalar", schrie sie, nachdem sie das Seil um sich gewickelt und mit mehrfachen Knoten festgebunden hatte.
"In Ordnung. Nun häng dich an das Seil. Wir ziehen dich hoch", sagte
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