Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
Schneesturm so stark wie am ersten Tag ihrer Reise.
Die Oberfläche des Gletschers war nicht ganz so eben und glatt, wie es an dem ersten, glitzernden Sonnentag den Anschein gehabt hatte. Sie kämpften sich durch tiefe Verwehungen aus Pulverschnee, die der Sturm aufgetürmt hatte. Und wo der Wind die Oberfläche leergefegt hatte, schleppten sie sich über scharfe Vorsprünge und glitten in flache Gräben hinein, oder sie verrenkten sich fast die Füße in Spalten der unebenen Fläche. Ohne Vorwarnung erfaßten sie plötzliche Böen; und sie fürchteten die Risse, die nur dünn überbrückt oder von überhängenden Schneewächten bedeckt waren.
Sie umgingen offenliegende Abgründe, besonders in der Mitte des Gletschers, wo die trockene Luft nicht genug Schnee brachte, um die Spalten auszufüllen. Die bis ins Mark dringende Kälte war ihr ständiger Begleiter. Ihr Atem gefror ihnen um den Mund und am Pelz ihrer Kapuzen, ein Tropfen Wasser wurde zu Eis, noch bevor er zu Boden fallen konnte. Ihre Gesichtshaut, die den rauhen Winden und der hellen Sonne ausgesetzt war, schälte sich und wurde dunkler. Frostschäden bedrohten sie.
Die Belastung zeigte ihre Folgen. Ihre Reaktionen und ihr Urteilsvermögen ließen nach. Ein wilder Nachmittagssturm hatte bis in die Nacht hinein angehalten. Am Morgen wollte Jondalar rasch aufbrechen. Sie hatten viel mehr Zeit verloren, als vorgesehen war. In der beißenden Kälte brauchten sie länger, um Wasser zu erhitzen, und ihr Vorrat an Brennsteinen nahm ab.
Ayla durchwühlte ihre Rucksäcke; dann kramte sie in den Schlaffellen herum. Sie wußte nicht mehr, wie viele Tage sie schon auf dem Eis zugebracht hatten; in jedem Fall zu viele, was sie betraf, dachte sie.
"Beeil dich, Ayla! Was machst du so lange?" herrschte Jondalar sie an.
"Ich kann meinen Augenschutz nicht finden", sagte sie. "Ich habe dir doch gesagt, du sollst darauf aufpassen. Willst du blind werden?" fauchte er.
"Nein, das will ich nicht. Warum, glaubst du, suche ich danach?" gab Ayla zurück. Jondalar ergriff ihren Pelz und schüttelte ihn. Die hölzernen Glotzaugen fielen auf den Boden.
"Paß nächstes Mal besser auf sie auf", sagte er. "Los, gehen wir."
Rasch packten sie ihr Lager ein, doch Ayla grollte und weigerte sich, mit Jondalar zu sprechen. Wie gewöhnlich ging er zu Winnie und wollte die Verschnürungen ihrer Last überprüfen. Ayla griff nach der Führleine und führte das Pferd weg.
"Glaubst du, ich weiß nicht, wie man ein Pferd bepackt? Du wolltest doch aufbrechen. Warum vergeudest du deine Zeit?" fuhr sie ihn an.
Er hatte nur umsichtig sein wollen. Sie kannte ja nicht einmal den Weg. Wenn sie eine Zeitlang im Kreis herumgeirrt war, würde sie ihn schon bitten, sie zu führen, dachte Jondalar und folgte ihr.
Ayla fror und war erschöpft von dem zermürbenden Marsch. Sie stapfte vorwärts, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Wolf rannte unruhig zwischen Ayla und Jondalar hin und her. Ihm
behagte der plötzliche Wechsel nicht. Der große Mann war immer an der Spitze gegangen. Wolf überholte Ayla, die sich blindlings weiterschleppte und nur noch die elende Kälte und ihre verletzten Gefühle spürte. Plötzlich blieb er direkt vor ihr stehen und versperrte ihr den Weg.
Ayla, die die Stute führte, ging um ihn herum. Er sprang zurück und hielt wieder vor ihr an. Sie ignorierte ihn. Er stupste sie an den Beinen, sie schob ihn beiseite. Er rannte ein gutes Stück voraus, setzte sich nieder und heulte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie schlurfte an ihm vorbei. Er stürmte zu Jondalar zurück, tänzelte und winselte, sprang jaulend zu Ayla und wieder zu dem Mann.
"Etwas nicht in Ordnung, Wolf?" fragte Jondalar schließlich.
Plötzlich hörten sie ein schreckliches Geräusch, ein gedämpftes Donnern. Jondalar erschrak, als Fontänen leichten Schnees in die Luft aufstiegen.
"Nein! Oh nein!" schrie Jondalar entsetzt und rannte vorwärts. Als sich der Schnee gelegt hatte, stand ein einsames Tier am Rande eines gähnenden Abgrunds. Wolf streckte seine Schnauze hoch und ließ ein langes, verzweifeltes Heulen ertönen.
Jondalar warf sich flach auf den Rand der Gletscherspalte und sah hinunter. "Ayla!" schrie er verzweifelt. "Ayla!" Sein Magen krampfte sich zusammen. Er wußte, daß es keinen Zweck hatte. Sie konnte ihn nicht mehr hören. Sie lag tot auf dem Grund der tiefen Eiskluft.
"Jondalar?"
Von weit her vernahm er eine dünne, ängstliche Stimme.
"Ayla?" Voller Hoffnung sah er hinab.
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