Modernisierung ist also nicht ganz preiswert zu haben. Allein die stationäre Behandlung von Depressionen erfordert rund eine Milliarde Euro jährlich (Statistisches Bundesamt 1998, S. 34). Rechnet man die Produktionsausfälle u. dgl. hinzu, so entstehen in Deutschland Kosten von (geschätzt) einer Billion Euro jährlich durch Depressionen, durch alle mentalen Erkrankungen von rund 2,5 Billionen Euro (Gabriel & Liimatainen, 2000; Wilken & Breucker, 2000).
Was aber macht dies alles mit der Gefühlskultur? Der amerikanische Soziologe Richard Sennett (1998, S. 38) hat diese Frage in seinem Buch Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus anschaulich so beantwortet: »Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft sind ein besserer Panzer im Kampf mit den gegenwärtig herrschenden Bedingungen als ein Verhalten, das auf Loyalität und Dienstbereitschaft beruht ... Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. ›Nichts Langfristiges‹ desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung.«
Angesichts dieser Lebensbedingungen kann ein Mensch keine dauerhaften und intensiven emotionalen Beziehungen mehr zu seiner Region, seinem Wohnort, seinen Nachbarn, seinen Arbeitskollegen entwickeln, er ist – wie der Begriff »Individualisierung« ja schon ausdrückt – zwangsläufig und in jeder Hinsicht auf sich selbst verwiesen. So gibt es auch für die Gegenwart Theorien über den aktuellen Sozialcharakter, die genau diesen Aspekt in den Vordergrund stellen.
Folgt man etwa Christopher Lasch (1980) und seinem Buch Das Zeitalter des Narzißmus, dann soll der dominierende Typus unserer Zeit der narzißtische Charakter sein. Er entstand, weil im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Modernisierung die Menschen aus den direkten Sozialformen der industriellen Gesellschaft -Klasse, Schicht, Familie – entlassen und in ein Netz institutionalisierter Gesundheits- und Wohlfahrtsinstitutionen übergeben wurden. Die damit erzeugten bürokratischen Abhängigkeiten, »die Aushöhlung des Selbstvertrauens und der normalen bürgerlichen Fähigkeiten durch das Anwachsen gigantischer Körperschaften und der Staatsbürokratie« (Lasch, a.a.O., S. 284) führten zu einem kalten, selbstbezogenen Charakter, ohne emotionale, moralische oder soziale Bindungen.
Dazu Lasch selbst (a.a.O., S. 288) : »Unsere Gesellschaft ist also in doppeltem Sinne narzißtisch. Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur spielen ... in der zeitgenössischen Wirklichkeit eine auffällige Rolle und bringen es häufig zu beträchtlichem beruflichem Ansehen ... Die moderne kapitalistische Gesellschaft ... kitzelt auch bei jedermann narzißtische Züge heraus und gibt ihnen Nahrung.« Unter solchen Lebensumständen müssen sich auf Dauer ausgeprägt ichbezogene Persönlichkeiten entwickeln, ökonomische und organisatorische Veränderungen fordern geradezu die Entstehung dessen, was in der Psychologie als narzißtische Persönlichkeit beschrieben wird.
Übernehmen wir diese Zeitdiagnose für den Moment und behaupten also: Der Narzißt ist der neue Sozialcharakter, seine Emotionalität prägt die Gefühlskultur der Gegenwart. Auch nach Berichten von Therapeuten und Unternehmensberatern nehmen narzißtische Störungen in der klinischen Praxis gegenwärtig zu (vgl. dazu Kets de Vries, 1995, S. 1609; Lasch, 1980, S. 64 ff, Zepf, 1993). Wie wird dieser Typus beschrieben?
Nach gängigen psychoanalytischen Ansätzen beispielsweise (vgl. Übersicht bei Mertens & Lang, 1991, S. 120) zeigen Menschen mit narzißtischen Zügen Anzeichen von Größenphantasien, von Minderwertigkeitsgefühlen, und sie sind übermäßig angewiesen auf Bewunderung und Bestätigung durch andere. Ferner haben sie wenig Einfühlungsvermögen für ihre Mitmenschen, gehen ausbeuterische Beziehungen zu diesen ein und leiden stark unter Neid. Sie neigen dazu, Ereignisse und Personen entweder als nur gut oder als nur schlecht wahrzunehmen.
Dominieren diese Merkmale alle anderen Charaktermerkmale, so spricht man von einer narzißtischen Charakter störung . Sie wird diagnostiziert, wenn fünf oder mehr der nachfolgenden Kriterien vorliegen (vgl. Fiedler, 1997, S. 279ff.): Die Person zeigt ein übertriebenes Selbstwertgefühl, sie beschäftigt sich ständig mit Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe, sie hält sich für
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