darin, daß Menschen unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte in sich tragen – nach Liebe, Schönheit, Macht oder ewiger Jugend. Dieses Potential ist ausgeprägter in schwierigen historischen Epochen, wie etwa der Umbruchzeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Es ist auch ausgeprägter in bestimmten individuellen Lebensphasen, beispielsweise in der Adoleszenz, wenn der Mensch sich einen Platz in der Gesellschaft erwirbt. Oder in individuellen Lebenskrisen, etwa in der sogenannten midlife crisis, in der 40jährige Alternativen zu einem aktuell unbefriedigenden Leben erwägen.
Wenn der Mensch solche Sehnsüchte nicht realisieren kann, träumt er sich in eine Welt hinein, die ihm wenigstens zeitweise eine Erfüllung verheißt. Das kann über Tagträume oder über ein Buch oder ein Theaterstück geschehen. Tagträume verlangen eine vergleichsweise hohe eigene Aktivität, muß der Träumer seine Figuren und deren Welten doch ganz selbst erschaffen. Und bei einem Buch muß er die vorgegebenen Figuren und Kontexte ebenfalls mit seinem Leben füllen. Selbst das Theater mit seinen reduzierten Bühnenräumen fordert phantasievolle Eigenaktivität. Ganz anders der Film: Hier bekommt das Publikum eine komplette Traumwelt vorgesetzt. Der Zugang zu dieser Welt erfolgt über die darin agierenden Figuren, mit denen der Zuschauer sich – wenigstens teilweise und eine Zeitlang – identifiziert. Zwei Stunden lang so stark, klug und bei den Frauen erfolgreich sein wie James Bond, einen Film lang so attraktiv sein und von Tom Cruise so begehrt werden wie Nicole Kidman. Nicht umsonst spricht man deswegen auch von der »Traumfabrik Hollywood«.
Stars sind buchstäblich Personifikationen von Träumen großer Menschengruppen, die deren Wünsche über sich selbst, ihre Idealbilder oder über die phantasierten Wunschpartner sicher und dauerhaft verkörpern. Aus diesem Grund muß auch das private Image des Stars mit seinem Starimage zur Deckung gebracht werden. Wenn beispielsweise die Garbo nach dem Film The Temptress in einem Interview gesagt haben soll, »Ich möchte keine alberne Verführerin sein. Ich kann keinen Sinn darin sehen, mich herauszuputzen und weiter nichts zu tun, als im Film die Männer zu verführen« (vgl. Prokop, 1995, S. 104), dann wundert es nicht, daß ihre Produktionsgesellschaft MGM ihr daraufhin mit dem Entzug der Aufenthaltsgenehmigung drohte. Sie fügte sich und gab weiterhin den Vamp. Im Starsystem müssen sich die Rollen im Film wie das Verhalten im Privatleben der mühsam aufgebauten Kunstfigur unterordnen. Das (angebliche) Privatleben von Schauspielern wird so zu einer zusätzlichen Ressource für das Starsystem.
Der Star ist also letztlich eine kollektive Projektion der vielen Unbedeutenden, in der sich deren Wünsche und Phantasien konzentrieren. Ist er aber einmal geboren, so wirkt er in vielfältiger Weise auf sein Publikum zurück. Sich wenigstens so verhalten wie er, sich ab und an so kleiden wie sie, das sind einige Mechanismen der Identifikation, die ein wenig von den Träumen in den Alltag hinübertransportieren. Um ein historisches Beispiel dafür anzufügen: 1923 wurde in dem Film Floaming Youth erstmals die männliche Bubikopf-Frisur gezeigt, damals noch eine Provokation. Zwei Jahre später war die Frisur in der westlichen Welt gang und gäbe (Prokop, 1995, S. 89). Kaum war das Starsystem geschaffen, ließen sich viele Stars schon damals für Modewerbung einsetzen, sie wurden früh schon zu »Idolen des Konsums« (Löwenthal, 1980, S. 267) wie der politischen Propaganda.
In Deutschland ging das Monopol der Filmstars rund 40 Jahre nach Florence Lawrence an einem unscheinbaren Dezembertag des Jahres 1952 in Pension. Am 1. Weihnachtstag 1952 nämlich begann mit einer Ansprache des Intendanten beim damaligen NWDR das regelmäßig ausgestrahlte Fernsehen. Das war auch der Geburtstag eines neuen Star-Typus, nämlich des Fernsehstars. Das Prinzip ist dasselbe wie bei den großen Stars, Rolle und »Personality« müssen zu einem Image zusammengefügt werden. Ein Beispiel dazu findet sich im Spiegel (Nr. 22 vom 23.5.03, S. 148f.) unter der Überschrift »Die Stunde des Zwirbelbarts. Laien statt Mimenstars, Wackelkamera statt schöner Bilder, Radiodramaturgie statt kunstvoller Fernseherzählung – mit schnell gedrehten Ermittlerserien hat Sat.1 am Vorabend Erfolg«. Dort stand zu lesen: »Auf namhafte Schauspieler kann das Leichtbau-Fernsehen zwar verzichten, nicht aber auf das Starprinzip.
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