Jahrhunderts beanspruchte nun auch die »neue Frau« alle sexuellen Freiheiten. Zunächst änderte sich die Mode, Korsetts und lange Röcke wurden durch seidene Unterwäsche und kürzere Kleider ersetzt. Frauen waren zunehmend über Sexualpraktiken, Verhütung und Schwangerschaftsabbruch informiert, sie nahmen sich das Recht auf sexuelle Beziehungen vor und außerhalb der Ehe (vgl. dazu Kuhn & Koser-Spohn, 2001). So sollen 1932 nur zehn Prozent aller ledigen Frauen abstinent gelebt haben (Haustedt, 2002, S. 170). Busen- und Wadenwettbewerbe, Nackttänzerinnen, Damenclubs für lesbische Frauen, Eintänzer: Berlin war in den 20er Jahren zweifelsfrei der Mittelpunkt einer sexuellen Revolution in Deutschland – und es war vor allem eine Revolution der Frauen.
Berlin war aber zugleich der Mittelpunkt des deutschen »Showbusiness«, und vor allem hier begann der Aufstieg des Films in Deutschland. Natürlich trug die seit langem vorhandene Vergnügungsindustrie nicht wenig zu diesem Trend bei. Animierkneipen und Kaffeehäuser, Kabaretts und Varietepaläste, Boulevardtheater und Ballhäuser, Panoramen und Wachsfigurenkabinette hatten ihm seit Mitte des 19. Jahrhunderts angekündigt, den »Aufstieg der Massenkultur« (Maase, 1997). Aber am Ende des Jahrhunderts ging es dann richtig los, am 1. November 1895 führten die Brüder Skladanowsky im Berliner Winterpalast weltweit erstmals öffentlich Kinematographenfilme vor. Und das neue Medium kam an: Mußte es sich die ersten zehn Jahre seiner Existenz noch auf Jahrmärkten, in Varietes und in Vorstadtkneipen herumdrücken, so gab es schon 1905 die ersten festen Kinobauten, meist in ehemaligen Geschäften oder Gaststätten. Weitere sieben Jahre später existierten schon 3.000 solcher Ladenkinos in Deutschland, sie zogen täglich 1,5 Millionen Besucher an (Hoffmann, 2002). Ab 1906 bezauberte das Kino mit anspruchsvolleren Filmtheatern in zentralen Lagen nun auch das bürgerliche Publikum. In Berlin wurde 1909 am Alexanderplatz das Union-Theater als erstes Kino für die gehobenen Sozialschichten eröffnet, andere folgten nach: Rund 2.500 Kinos mit je 200 bis 400 Plätzen waren es zu Kriegsbeginn. Die Preise waren moderat, zehn bis zwanzig Pfennige, Kinder zahlten die Hälfte.
Für Berlin hatte auch – zunächst in Tempelhof, dann in Babelsberg – die größte deutsche Filmgesellschaft, die Universum-Film-Aktiengesellschaft (UfA), ihren Firmensitz. Im Dezember 1917 auf Initiative der Obersten Heeresleitung von der deutschen Großfinanz und der Reichsregierung zur Hebung der Moral der kriegsmüden Bevölkerung gegründet, hatte sie in den 20er Jahren die berühmtesten Autoren, Kameramänner, Regisseure und Schauspieler der deutschen Filmindustrie unter Vertrag. Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1919, Regie: Robert Wiener, Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922, Regie: Friedrich Wilhelm Murnau) und Metropolis (1927, Regie: Fritz Lang) entstanden hier. Die Jahre bis zur Übernahme durch den Hugenberg-Konzern im Jahre 1927 waren die Glanzzeit der UfA (Greschik & Grob, 2002).
In dieser Welt entstanden, aus ihr stammten die Träume der beiden Lenis. Hatten sie zunächst noch halbwegs bürgerliche Phantasien von einer Karriere als Geigensolistin oder als Tänzerin, so strebten sie nach deren Scheitern ohne weitere Umwege zum Film – hier wollten sie auftreten. Dafür war Berlin das richtige Umfeld, hier fanden sich zahlreiche Möglichkeiten, erste berufliche Erfahrungen als Schauspielerin zu sammeln. In der sexualisierten Atmosphäre der 20er Jahre lernten beide früh, ihre körperliche Attraktivität zielstrebig einzusetzen. Eine gemeinsame Schaltstelle im Leben der beiden Frauen war vermutlich auch der Kontakt mit Josef von Sternberg, der eine Schauspielerin für die Rolle der Lola Lola in dem UfA-Film Der blaue Engel suchte. Angeblich soll er sowohl Leni Riefenstahl wie Marlene Dietrich dafür in Erwägung gezogen haben. Marlene bekam sie und war damit für Deutschland verloren. Die inzwischen deutschnationale Hugenberg-UfA hatte kein Interesse an einer dauerhaften Verpflichtung der Dietrich, während ein Paramount-Vertreter nach Hollywood telegraphierte: »Sie ist sensationell, unter Vertrag nehmen!«
Unmittelbar nach der Premiere des Films am 1. April 1930 machte Marlene sich also auf nach Hollywood, einen Siebenjahresvertrag bei der Paramount in der Tasche. Leni Riefenstahl hingegen produzierte ab 1931 den Film Das blaue Licht mit ihr selbst in der Hauptrolle.
Weitere Kostenlose Bücher