001 - Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus
vernehmen.
»Die junge Dame nimmt scheinbar ein ausgedehntes Bad«, konnte er sich nicht
verkneifen zu bemerken. »Ich denke, sie wollte sich nur kurz frisch machen.«
Unruhe stieg in ihm auf, und der Kommissar erhob sich. Mit drei raschen
Schritten durchquerte er den Raum, ging auf den Korridor und sprach mit einem
der Beamten, die draußen vor dem Eingang postiert waren.
»Ist sie wirklich noch da drin?«, wollte Sarget wissen und deutete auf die
Badezimmertür.
»Natürlich, Monsieur Kommissar. Die Tür hat sich in der Zwischenzeit nicht
geöffnet. Etwas Verdächtiges habe ich nicht bemerkt.«
Sarget klopfte an die Badezimmertür. »Mademoiselle Bonnard?«, rief er laut.
Er lauschte und wartete auf eine Antwort. Die Unruhe in ihm wuchs. Vielleicht
war sie ohnmächtig geworden und brauchte Hilfe? Nach den Aufregungen der
letzten halben Stunde musste man bei einem solch grazilen Mädchen mit allem
rechnen. Das Wasser hinter der Tür rauschte noch immer in die Badewanne.
»Mademoiselle Bonnard?!«
Wieder keine Reaktion!
Da handelte Sarget. Warf sich mit voller Wucht gegen die Tür, und die flog
sofort aus dem schwachen Schloss.
Das Badezimmer.
Es war – leer!
Das Fenster stand weit offen, das Wasser lief aus der Brause und rauschte
in den Abfluss. Von Nicole Bonnard war weit und breit keine Spur zu sehen ...
●
Pierre Sarget stürzte zum Fenster und warf einen Blick in den dunklen
Innenhof. Schwarze Hecken zeichneten sich schemenhaft ab.
Der Kommissar alarmierte seine Leute und ließ sofort das ganze Anwesen
durchsuchen.
Obwohl sich auch draußen im Freien noch einige Begleiter aus dem
Kommissariat aufgehalten hatten, war die Flucht der Professorentochter von
niemand bemerkt worden. Nicole Bonnard schien äußerst geschickt vorgegangen zu
sein. Und sie hatte alle gründlichst getäuscht.
Die sofort eingeleitete Durchsuchungsaktion brachte zumindest Aufklärung
darüber, wie die junge Frau das Anwesen verlassen hatte.
Sie war auf der Rückseite des Geräteschuppens zur großen Scheune
geschlichen. Von hier aus gab es einen direkten Ausgang zu den Feldern. Das
hatte von Sargets Männern bisher niemand gewusst. Sarget stieß einen Fluch aus
und ärgerte sich, dass er nicht auch diesen Ausgang hatte bewachen lassen. Der
Kommissar schüttelte irritiert den Kopf. Keine Minute hatte er daran
gezweifelt, dass Nicole Bonnard zu ihm zurückkehren würde. Er hatte ihr
vertraut und geglaubt. Er sah auch keinen Grund, weshalb sie geflohen war.
War vielleicht, während sie sich im Bad aufhielt, etwas eingetreten, oder
hatte sie sich an etwas erinnert, was sie zu ihrer Flucht veranlasste?
Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust des Polizeibeamten. Er dachte
daran, dass Nicole Bonnard durch ihr Verhalten eher zu verstehen gegeben hatte,
wie sehr sie die Aussprache wünschte. Das war echt gewesen. Sarget ließ sich da
nicht täuschen.
Der Entschluss zu fliehen musste also ganz plötzlich gekommen sein. Wodurch
war er ausgelöst worden?
Sarget registrierte die Bewegung neben sich. Sein Assistent tauchte auf.
»Warum ist sie geflohen, Kommissar?«, fragte Michel leise mit dunkler
Stimme. »Ich sehe nicht den geringsten Grund dafür. Oder wir haben tatsächlich
etwas übersehen ...«
Sarget nickte. »Genauso muss es sein, Michel. Wenn ich den Grund wüsste,
wäre ich ebenfalls einen Schritt weiter. Vor zehn Minuten noch schien es so,
als ob die Schwierigkeiten geringer würden. Jetzt sind sie eher größer geworden.«
●
»Kommissar Sarget!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund. »Bitte kommen Sie
zum Wagen. Ein Telefonanruf für Sie. Es ist dringend ...«
Pierre Sarget überquerte den freien Platz und ging zu einem geparkten
Polizeifahrzeug, aus dem ein Beamter ihm schon den Telefonhörer
entgegenstreckte.
»Von Jean-Pierre«, flüsterte der Mann.
Das war einer der beiden Männer, die bei dem unbekannten Toten am
Straßenrand zurückgeblieben waren.
Sarget nahm den Hörer in die Hand und meldete sich. Er erfuhr, dass man den
Toten inzwischen identifiziert hatte. Es handelte sich um einen amerikanischen
Touristen namens Henry Parker, der im Le petit Jardin Gast gewesen war. Viele
inzwischen festgestellte Spuren wiesen darauf hin, dass Parker offensichtlich
während eines abendlichen Spaziergangs von einer Vampirfledermaus angefallen
worden war. Doch andere Spuren ließen auch erkennen, dass noch jemand anderes
im Spiel gewesen war. Man konnte deshalb ein normales Verbrechen
Weitere Kostenlose Bücher