0010 - Der endlose Tod
Gänsehaut.
***
Derek Addams schreckte hoch. Der kleine Antiquitätenhändler raufte sich verwirrt die Haare. Eben noch hatte er tief und fest geschlafen. Von einer riesigen Schafherde in der schottischen Hochebene hatte er geträumt. Er war der Schäfer gewesen. Stille, Frieden, Beschaulichkeit hatten ihn umgeben, und dann hatte plötzlich dieses barbarische Telefon zu schrillen angefangen. Ärgerlich schlug er die Decke zurück und rutschte aus dem Bett.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« meckerte er. »Rücksichtslos sind diese Leute. Möchte wissen, was sie sagen würden, wenn ich sie so aufscheuchen würde!«
Ingrimmig suchte er die Pantoffeln, aber er konnte sie nirgendwo finden. Also lief er barfuß aus dem Schlafzimmer, obwohl er wußte, wie leicht er sich einen Schnupfen holte. Das verdammte Telefon hörte nicht zu läuten auf.
Gereizt riß er den Hörer von der Gabel. »Addams!« bellte er in die Membrane.
»Entschuldigen Sie die späte Störung, Mr. Addams…« Ein Mädchen.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Es tut mir furchtbar leid, Mr. Addams.«
»Das kann jeder sagen. Was wollen Sie? Wer sind Sie überhaupt?«
»Es… es ist äußerst dringend, Mr. Addams. Mein Name ist Susan Koch. Ich bin die Tochter des Hellsehers Hannibal Koch.« Die Stimme klang verzweifelt.
Derek Addams wurde etwas freundlicher. »Kann ich Ihnen helfen, Miß?«
»Ich muß dringend mit Oberinspektor Sinclair sprechen. Er ist nicht zu Hause. Es ist wirklich ungeheuer wichtig für mich, ihn zu erreichen. Ich hab’s da mehrmals versucht. Dann fiel mir Ihr Name ein. Der Oberinspektor hat ihn mir gegenüber erwähnt…«
»Wie geht es Ihrem Vater, Miß Koch?«
»Nicht gut. Deswegen muß ich unbedingt mit John Sinclair sprechen. Haben Sie keine Ahnung, wo er sich aufhält?«
»Sinclair ist nach Southampton gefahren.«
»Großer Gott. Wo wohnt er denn da? Bitte, Mr. Addams, Sie müssen es mir sagen!«
»Er steigt meist im selben Hotel ab. Warten Sie einen Augenblick. Ich suche Ihnen die Nummer heraus.« Addams wühlte sich durch seine Telefonkladde und nannte dem aufgeregten Mädchen dann Name und Telefonnummer des Hotels.
»Vielen Dank, Mr. Addams, und entschuldigen Sie nochmals die Störung.«
»Geschenkt. Was ist denn eigentlich passiert, Miß Koch?«
»Es fehlt mir leider die Zeit, Ihnen das zu erklären, Mr. Addams. Ich muß schnellstens Sinclair erreichen, sonst gibt es eine Katastrophe!«
***
Eddie Scheider war Köhler. Ein häßlicher Mensch mit deformiertem Nasenbein, schäbigen Zähnen, stets unrasiert und schmutzig. Ein Eigenbrötler, der die Einsamkeit des Waldes liebte und vom Umgang mit Mitmenschen, von zwischenmenschlichen Beziehungen und all dem Kram nicht allzuviel hielt. Er war gern allein, und er trachtete, so wenig wie möglich in die Stadt zu gehen. Der Lärm, die schlechte Luft, die vielen Leute machten ihn immer ganz fertig.
In seiner bescheidenen Waldhütte brannte die Petroleumlampe. Eddie Scheider war gerade dabei, seine Werkzeuge auszubessern, als plötzlich ein gellendes Gelächter draußen durch den Wald hallte. Ein Gelächter, wie Eddie es noch nie gehört hatte. Ihm wurde angst und bange. Er bekreuzigte sich flink, denn so dämonisch konnte nur der Satan selbst lachen.
Schweiß trat Eddie auf die hohe Stirn.
Er erhob sich linkisch und begab sich zum Fenster. Wie Eiswasser floß es durch seine Adern, als er das geisterhafte Flüstern und Raunen vernahm, das zwischen den Bäumen hervorkam und gegen seine armselige Holzhütte brandete. Was war denn da draußen mit einemmal los? Beunruhigt griff der Köhler nach seiner scharfen Axt. Er nahm sie immer an sich, wenn er sich belauert oder bedroht fühlte. Das kam in diesem seltsamen Wald schon hin und wieder vor. Die Axt vermittelte ihm das Gefühl, sich erfolgreich zur Wehr setzen zu können, und das schwächte seine aufwallende Angst etwas ab.
Gespenstische Rufe schwirrten durch die Nacht.
Lockrufe!
Und Eddie Scheider mußte ihnen gehorchen. Obgleich er sich davor fürchtete, den Fuß aus der Hütte zu setzen, begab er sich doch wie in Trance auf die Tür zu. Ohne es zu merken, schob er den hölzernen Riegel zur Seite. Die schräg in den Angeln hängende Tür öffnete sich knarrend, wie von Geisterhand bewegt.
Eddie sah seinen Schatten, und obwohl er den heute nicht zum erstenmal sah, kam er ihm diesmal fremd vor.
Tatsächlich. Das war nicht sein Schatten.
Scheider hatte zwei Schritte aus dem Haus gemacht. Nun stand er
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