0011 - Das Todesschloß
darüber erzählt, doch ich muß gestehen, daß ich die Schilderungen von Miss Duval noch viel aufregender finde. Sie müssen ja schon soviel erlebt haben!«
Gladys hatte sich in Eifer geredet.
»Und Sie glauben wirklich, daß dies ein Thema für junge Damen ist?« meinte Professor Zamorra lächelnd.
»Haben Sie schon jemals etwas von Emanzipation gehört?« fragte Gladys schnippisch zurück. Winston würde es ganz bestimmt nicht leicht mit ihr haben.
Professor Zamorra lächelte und nickte, dann wechselte er das Thema: »Wußten Sie, daß Sie eine Vorgängerin hatten, Miss Gladys?«
Schlagartig wich die fröhliche Miene aus Gladys’ Gesicht. »Das war nicht sehr charmant, Professor. Welche Frau hat es schon gern, wenn man ihr sagt, daß sie eine Doppelgängerin hat. Und selbst wenn sie schon zweihundert Jahre tot ist. Ich kenne die Geschichte der unseligen Griselda. Aber ihr Schicksal wird sich nicht wiederholen.«
»Natürlich nicht«, sagte Professor Zamorra. »Entschuldigen Sie. Aber ich hätte nicht davon sprechen sollen.«
»Doch, fragen Sie ruhig, Professor. Ich bin gespannt, welche Meinung Sie als Wissenschaftler zu dem Thema vertreten.«
»Nun gut.« Zamorra nickte wieder, dann wollte er wissen: »Werden Sie von schlechten Träumen geplagt?«
Er sah ganz deutlich, wie sich das Gesicht des Mädchens verdüsterte. Urplötzlich waren dunkle Schatten unter ihre Augen getreten.
»Nicole sagte mir, daß Sie Parapsychologe sind«, erklärte sie. »Daß Sie sich aber auch auf dem Feld der Psychologie versuchen, hat sie nicht erwähnt.«
»Parapsychologie ohne fundierte psychologische Kenntnisse ist undenkbar«, erläuterte Professor Zamorra milde lächelnd.
»Sie verwirren mich, Professor«, wich Gladys aus. »Könnten wir über dieses Thema nicht doch morgen weitersprechen? Ich glaube, ich muß mich mehr um Winston kümmern. Er ist drauf und dran, meiner Mutter einen Heiratsantrag zu machen. Sehen Sie nur, wie er die alte Dame anhimmelt.«
Gladys stand überhastet auf.
»Sie machen einen großen Eindruck auf kleine Mädchen«, sagte Nicole, nachdem Gladys außer Hörweite war.
»Nur auf kleine?« fragte Professor Zamorra zurück.
Nicole schüttelte lächelnd den Kopf, antwortete aber nichts darauf.
Es war schon relativ spät geworden. Der Earl gähnte ungeniert als erster. Er hatte seinen Humor wiedergefunden. »Kinder«, sagte er, »ich habe nichts dagegen, wenn ihr hier den Sonnenaufgang abwartet. Ich für meinen Teil werde mich jetzt mit den Bettfedern vermählen.«
Er schwankte leicht. Offensichtlich hatte er seinen ursprünglichen Vorsatz, nichts mehr zu trinken, ins Gegenteil abgeändert.
»Aber Ernest«, rief Rosalinda prompt, »du kannst ja nicht mehr geradestehen!«
»Ist das ein Wunder nach einem Polterabend?«
Rosalinda ließ sich in kein Gespräch mehr verwickeln. Sie schob ihren adeligen Gatten sanft aus der Tür und sandte um Entschuldigung heischende Blicke in die Runde.
Auch hier rüstete man bereits zum Aufbruch. Fünf Minuten später konnte Butler James das Kaminfeuer löschen.
***
Gladys of Blakeborne konnte lange nicht einschlafen. Die Verabschiedung von Winston war kurz ausgefallen. Er genierte sich wohl vor den Gästen. Sein Kuß war nur hauchzart und kaum spürbar gewesen.
Doch das war es nicht, was Gladys nicht einschlafen ließ. Es waren die wenigen Worte, die sie mit dem Professor aus Frankreich gewechselt hatte.
Das Thema Griselda war bis jetzt tabu gewesen in der Familie der Blakebornes. Als würde man sich der Tatsache schämen, daß vor zweihundert Jahren ein Mitglied der Familie offensichtlich eines nicht natürlichen Todes gestorben war. Gladys war schon in frühester Jugend auf dieses Tabu gestoßen. Anfangs hatte ihr Vater auf ihre entsprechenden Fragen hin mit seinen Antworten hinter dem Berg gehalten, doch Gladys hatte nach und nach alles aus ihm herausgekitzelt, was sie wissen wollte.
Noch als Fünfzehnjährige hatte sie während der Schulferien in ihrem Zimmer Griselda gespielt. Sie hatte ihre Kleider angezogen und die damaligen höfischen Sitten nachgeahmt. Stundenlang hatte sie vor dem Spiegel Selbstgespräche als Griselda geführt. Die Tote war ihr dadurch auf eine seltsame Weise vertraut geworden. Gladys entdeckte nicht nur Gemeinsamkeiten in ihrem Äußeren, sondern auch gewisse Wesensgleichheiten. Der einzige Unterschied war: Griselda wurde damals massiv von zwei Männern umworben. Der eine war ein junger, gut aussehender Seekadett, und der
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