0013 - Die Knochengrube
Untergang der ›Drachten‹ um ein verzwicktes Unglück handeln, aber Mord schließe ich erfahrungsgemäß aus. Au- ßerdem ist es nicht richtig, Mutmaßungen anzustellen, bevor nicht die gerichtliche Autopsie durchgeführt wurde, was, Caporal?«
»Ich kann mir vorstellen, daß Pravemann auch durch eine stürzende Stahlplatte so zugerichtet worden sein«, versetzte der Caporal.
»Unsere Taucher sind draußen geblieben und untersuchen zur Stunde die Ursache des Geschehens. Die ›Drachten‹ liegt nicht allzu tief. Bei den jetzt ruhigen Wasserverhältnissen müßten sie ziemlich schnell damit fertig werden.«
Zamorra verzog den Mund. »Messieurs, Sie vergessen die Notrufe des Frachters. Aber wahrscheinlich messen Sie ihrem Inhalt absichtlich wenig Bedeutung bei.«
»Hören Sie doch auf«, rief der Kommissar. »Jetzt kommen Sie auch noch mit diesem dämlichen Geisterschiff! Können Sie sich eigentlich nicht vorstellen, daß es an der Küste einige hundert Funkamateure gibt, von denen einer so unverschämt war, sich diesen üblen Scherz auszudenken? Wer fällt denn auf so was herein? Ich bin sicher, die ganze Geschichte wird eine nüchterne Erklärung finden. Sieht ganz danach aus, als habe die ›Drachten‹ den Brechern nicht standgehalten und sei im Orkan zerbrochen. Also wollen wir die Kirche mal im Dorf lassen!«
Zamorra riß die Leichentücher von den Körpern des Funkers Willem Koog und des Steuermanns Eike Rünne. Beide Tote trugen deutlich die Spuren von Einstichen in Bauch- und Unterleibgegend.
»Und das? Sind das auch Scherze, Kommissar? Ich nehme an, Sie haben auch hierfür eine sachliche Erklärung.«
»Erschweren Sie nicht die Ermittlungen. Wollen Sie mich verhö- ren?«
»Nein«, entgegnete der Professor. »Ich habe genug gesehen.«
»Dann gehen Sie jetzt bitte. Caporal, begleiten Sie den Professor und die Mademoiselle.« Armand Panassié wandte sich ab. Er war sichtlich ungehalten, und daran konnte auch Nicole Duval nichts mehr ändern. Zumal sie sich im Augenblick nicht in der Lage fühlte, mit herzerweichenden Blicken um sich zu werfen.
Der Caporal gab einem seiner Leute einen Wink. Der Uniformierte, ein blonder Mann im Alter von schätzungsweise Ende Zwanzig, lief neben dem Professor und seiner Sekretärin her und zog die Tür des kleinen Saals hinter ihnen zu. Erst am Haupteingang wagte er, den Mund aufzumachen.
»Professor, ich habe mit dem Funker gesprochen, der den Ruf entgegengenommen hat«, sagte er. »Und ich schwöre Ihnen, die Sache mit dem Geisterschiff ist wahr! Die meisten von uns glauben daran, aber…«
»Gegen einen Dickschädel wie den des Kommissars Panassié ist kein Kraut gewachsen«, ergänzte Zamorra. »Gibt es einen Verdacht, wie der Name des unheimlichen fremden Dampfers lauten könnte oder woher er stammt?«
Der Blonde senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Besonders Pravemanns Beschreibung war so detailliert, daß es keinen Zweifel gibt. Es muß sich um die ›Estrella Negra‹ gehandelt haben.«
»Ein spanisches Schiff?«
»Ja. Es hat eine mysteriöse Geschichte, aber die schlagen sie am besten in der Gemeindebibliothek nach. Dort gibt es ein Seefahreralbum, in dem alles ganz genau aufgezeichnet ist. Ich muß jetzt zurück zum Caporal. Tut mir leid. Professor… Sie entschuldigen.«
»Ich danke Ihnen.« Zamorra drückte ihm die Hand.
Er führte Nicole nach draußen. Ihre Gesichtsfarbe hatte gewechselt, und besonders die Nasenspitze war blaß geworden.
»Schrecklich«, schluckte sie. »Die armen Teufel.«
»Wir müssen ihre Mörder finden, Nicole«, drängte Zamorra.
***
Die Gemeindebibliothek entpuppte sich als schmuckloses Gebäude im Zentrum von Arcachon. Der Pförtner wollte schließen, als Zamorra und Nicole eintrafen. Eben schlug die Glocke der Kirchturmuhr nämlich zwölf mal. Es kostete den Professor einige Überredungskunst und zehn neue Franc, den Mann zu einer halben Überstunde zu bewegen.
Zamorra ließ sich sofort das Seefahreralbum vorlegen.
Es handelte sich um einen dicken Wälzer, der die »schwimmenden Paläste« der Zeit um die Jahrhundertwende in Wort und Bild vorführte. Zamorra blätterte im Stichwortverzeichnis nach. Der »Estrella Negra« war ein ganzes Kapitel gewidmet.
Der Professor las leise.
»Die ›Estrella Negra‹ wurde 1897 als Zwei-Schrauben-Schnelldampfer in Bilbao gebaut und in Santander zum Stapellauf gebracht. Sie war 200 Meter lang und 20 Meter breit. Die beiden Dampfmaschinen brachten eine Leistung von 28000
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