0014 - Der schwarze Henker
der Natur.
Ohne es eigentlich zu wollen, näherte sie sich dem Leichenacker. Brach lag das Gelände vor ihr. Zwei umgekippte, mit Moos bewachsene Grabsteine erinnerten daran, daß hier einmal ein Friedhof gewesen war.
Die Geschichten kamen Valerie in den Sinn. Ihre Wirtin hatte ihr von dem schwarzen Henker berichtet, der unter der braunen Erde begraben lag.
Der schwarze Henker!
Das Mädchen dachte an den Namen, und dabei lief ihr ein Schauer über den Rücken. So spurlos waren die Erzählungen doch nicht an ihr vorübergegangen.
Sie blieb stehen.
Man konnte sich schon fürchten in dieser Einsamkeit. Das Dorf lag ziemlich weit entfernt. Der Ausbau hatte auf der anderen Seite stattgefunden. Hier, in der Nähe des Leichenackers, war alles so geblieben wie vor Hunderten von Jahren.
Ihr Blick schweifte über den alten Friedhof. Nicht nur Verbrecher und Gesetzesbrecher waren hier beigesetzt worden, sondern in den letzten hundert Jahren auch Soldaten. Aus diesem Grund standen auch noch die alten Grabsteine. Die Bewohner hatten es nicht übers Herz gebracht, die Männer einfach so in die kühle Erde zu betten.
Aber wo befand sich das Grab des schwarzen Henkers?
Die Neugierde siegte. Valerie Paine wollte es finden. Sie ging unter den kahlen Ästen der Bäume her und betrat das sagenumwobene Gelände. Schienbeinhoch wuchs braungrünes Gras. Die Spitzen wurden vom leichten Wind nach Osten gebogen.
Langsam schritt das junge Mädchen über den uralten Friedhof. Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter, verwob sich zu einem grauen Gespinst, das alles bedeckte wie ein großes Leichentuch.
Valerie Paine spürte das Unheimliche, das von diesem Ort ausging. Sie hatte schon des öfteren Friedhöfe betreten, doch dieser hier war anders. Er strahlte eine Atmosphäre aus, die Valerie frösteln ließ.
Sollte an den Geschichten doch etwas Wahres dran sein?
Schwer und feucht legte sich der Nebel auf ihre Atemwege. Er ließ diesen Totenacker noch geisterhafter erscheinen.
Plötzlich spürte Valerie einen ziehenden Schmerz an den Zehen. Sie war gegen einen der Grabsteine gelaufen. Schief hing er in der Erde. Valerie verzog das Gesicht, bückte sich und betrachtete den im Grabstein eingravierten Namen. Sie mußte erst das Moos entfernten, um die Buchstaben überhaupt entziffern zu können. Sie war so damit beschäftigt, daß sie nicht merkte, was in ihrem Rücken geschah.
Genau an diesem Abend, vierhundert Jahre nach dem Tod des Henkers, sollte sich sein unseliger Fluch erfüllen. Der Satan hielt es für angebracht, seinen Diener wieder auf die Menschheit loszulassen. Und ohne es zu wollen, war Valerie Paine in den Bannkreis des Fluches geraten. Der schwarze Henker reagierte sofort, denn sein erstes Opfer mußte ein junges Mädchen sein.
Wie vor langer, langer Zeit, als der schwarze Henker zum erstenmal mordete. Damals war es auch ein junges, blondhaariges Mädchen gewesen. Und obwohl inzwischen vierhundert Jahre vergangen waren, schien für den schwarzen Henker die Zeit stillgestanden zu haben…
***
Etwas Unheimliches, Grauenhaftes geschah hinter dem Rücken des Mädchens.
Ein Mensch, der vierhundert Jahre tot in der feuchten Erde gelegen hatte, entstieg dem kühlen Grab.
Unfaßbar, unmöglich…
Und doch wahr.
Die feuchte, lehmige Erde brach auf, wurde zur Seite geworfen, als würde ein riesiger Maulwurf seinen Weg bahnen. Doch es war kein Maulwurf, der sich aus dem Grab schob, sondern eine Hand.
Eine breite Hand, bedeckt mit braunem Staub. Die Finger waren zur Faust geschlossen und umklammerten ein Beil. Noch immer klebte das geronnene Blut an der halbrunden Schneide. Die Jahrhunderte waren spurlos an der Axt vorübergegangen.
Der Schrecken kam zurück.
Eine Schulter tauchte auf. Das schwarze Trikot spannte sich um die Muskeln. Dann folgte der Kopf!
Die Kapuze verdeckte den goldgelb schimmernden Totenschädel, das bleckende Gebiß und die leeren Augenhöhlen. Riesengroß wuchs dieses schreckliche Monster aus dem Grab. Eine Aura des Todes ging von ihm aus, ein Hauch von Gewalt und Mord.
Valerie Paine saß gedankenverloren vor dem Grabstein. Sie las den Namen eines Mannes und daß er durch eine Gewehrkugel zu Tode gekommen war.
»Mein Gott!« flüsterte sie. In ihrer Phantasie malte sie sich das Kriegsgeschehen aus und ahnte nicht, daß die Wirklichkeit weit schlimmer war.
Der Unheimliche machte ein paar schlenkernde Armbewegungen, wie ein Sportler, der vor einer Turnübung die Muskeln lockert.
Doch für den
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