0016 - Das Mädchen von Atlantis
geschah langsam, als fehlte ihr die Kraft, wieder so zu werden wie früher. Doch der unsichtbare Motor in ihrem Innern ließ sich nicht mehr abstellen. Er bestimmte ihr weiteres Handeln. Sie stemmte sich hoch, winkelte dabei die Arme an und streckte sie wieder. Die Untote stand in ihrem ausgepolsterten Sarg. Sie streckte beide Arme aus, behielt sie waagerecht in der Luft und fand das Gleichgewicht wieder.
Die Wiedergängerin hob das rechte Bein und streckte es über den Sargrand hinaus. Ihr nackter Fuß berührte den kalten Steinboden der Leichenhalle. Doch sie spürte diese Kälte nicht. Sie war immun gegen Gefühle und menschliche Regungen. Sandra stieg aus dem Sarg. Sie sah sich um, schien mit ihren Augen die Dunkelheit durchdringen zu können. Ihr Blick blieb auf der großen Eingangstür haften. Diese Tür war ihr Ziel.
Langsam, Schritt für Schritt, setzte sie sich in Bewegung, hielt dabei die Arme ausgestreckt und ging wie eine Schlafwandlerin. Ihre Hände streiften über das Holz der Tür, fuhren weiter nach unten, näherten sich der Klinke. Sie ertastete einen Schlüssel!
Sandra Moran wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie drehte den Schlüssel herum, gehorchte willenlos den Befehlen ihres fremden Lenkers und Meisters.
Sandra drückte die Klinke der jetzt aufgeschlossenen Tür herab. Sie zog die Tür auf. Das Knarren der Angeln ging im Toben des Windes unter. Regen peitschte schräg gegen den Körper der Untoten, durchnäßte ihn. Es machte Sandra nichts aus.
Kälte, Hitze, Nässe – das alles waren Dinge, die ihr nichts mehr anhaben konnten.
Sie trat durch den Türspalt. Der Wind knallte die Tür hinter ihr wieder zu.
Wie verloren stand Sandra Moran in der stürmischen Nacht. Am Himmel segelten dicke Wolken, der Wind jaulte um die Ecken der Leichenhalle. Es war eine schreckliche Nacht. Die Nacht des Bösen.
Sandra Moran war das letzte fehlende Glied in einer teuflischen Kette. Erst wenn sie den Tod überwand, konnte das grausame Spiel beginnen. Doch sie war nicht unbeobachtet.
Suko tauchte hinter der Mauer des Leichenhauses auf. Für einen winzigen Augenblick war sein bleiches Gesichtsoval zu erkennen. Der Chinese hatte genug gesehen. Hastig zog er sich einen Schritt zurück, so daß er in Deckung war. Dann aktivierte er das Funkgerät. »Sie hat soeben die Leichenhalle verlassen!«
»Okay, bleib ihr auf den Fersen«, drang meine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.
Suko schaltete ab und verließ die steinerne Deckung. Die schmale Gestalt der Untoten wurde vom Wind geschüttelt. Sandra schwankte, doch unbeirrt ging sie ihren Weg. Klatschnaß klebte das Leichenhemd an ihrem Körper, die nackten Füße patschten durch knöcheltiefe Wasserpfützen und tappten über den glänzenden Kies.
Sie ging langsam. Suko ließ ihr soviel Vorsprung, bis die Gestalt mit der Dunkelheit verschwamm und nur noch als Schemen wahrzunehmen war.
Dann kickte Suko den Ständer seiner Maschine weg und umfaßte mit beiden Händen den Lenker. Der Chinese hielt die schwere Harley, als wäre sie nur ein Fahrrad. Allein daran konnte man erkennen, welche Kräfte in seinem Körper steckten. Suko schob die Harley weiter. Er rechnete damit, daß Sandra abgeholt wurde und nicht zu Fuß ihr Ziel anstrebte. Eine Untote irrte nicht allein durch London. Sie konnte zu leicht Aufsehen erregen, und dann war der Plan geplatzt. Der Regen traf den Chinesen jetzt von vorn, als Suko auf den Hauptweg zuschritt. Der Weg führte direkt zum Haupttor des Friedhofs. Es stammte noch aus den Gründerjahren, war aus Schmiedeeisen gefertigt und fast doppelt so hoch wie ein normaler Mensch. Ein ebenso hoher Zaun zog sich um das gesamte Friedhofsgelände. Auch bei ihm hatte das Eisen längst Rost angesetzt.
Zur linken Hand sah Suko die Umrisse einer schmalen Baracke aus den Regenschleiern auftauchen. Dort hatte der Totengräber seinen Vorratsschuppen.
Die Wiedergängerin passierte den Schuppen. Sie drehte sich kein einziges Mal um. Und doch ließ sich Suko ein wenig zurückfallen. Außerdem war es gar nicht mal so einfach, die schwere Maschine für längere Zeit zu halten.
Knapp fünf Minuten waren verstrichen, seit Sandra die Leichenhalle verlassen hatte. Sie befand sich jetzt nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt. Dann blieb sie stehen.
Sandra legt beide Hände auf die breite Klinke. Dann rüttelte sie an dem Eisentor und zog es auf.
Dicht vor dem Friedhof führte eine Straße vorbei. Jenseits der Straße lag das Gelände eines Gärtners. Der
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