0016 - Das Mädchen von Atlantis
stoppte aber abrupt, als er den Gärtner mitten auf der Fahrbahn stehen sah. Der Kerl hielt wieder seine Schrotflinte in den Fäusten. Diesmal hatte er sie jedoch am Lauf gepackt und schwang sie wie eine Keule.
»Verbrecher!« brüllte er und lief auf den Chinesen zu. Es wäre für Suko ein leichtes gewesen, den Mann kurz anzutippen. Doch er zog die Maschine herum, duckte sich noch mehr im Sattel und tauchte unter dem Kolbenhieb hinweg. Der Gärtner hatte sehr viel Wucht in den Schlag gelegt. Er konnte seinen eigenen Schwung nicht mehr bremsen, geriet ins Taumeln und kam zu Fall.
Suko sah dies schemenhaft im Rückspiegel. Was hinter ihm lag, war egal. Ihn interessierte nur noch der Wagen mit dem Mädchen und dem Unbekannten am Steuer. Der Chinese drehte auf. Und jetzt zeigte die Harley, was in ihr steckte. Die Beschleunigung war phänomenal, aber Suko mußte auch rasch wieder abbremsen, denn es war gefährlich, auf der regennassen Fahrbahn zu schnell zu fahren. Wenn die Maschine auf dem spiegelglatten Asphalt ins Schleudern geriet, war sie nur mit Kraft und Glück wieder unter Kontrolle zu bringen. Der Friedhof lag in dem Londoner Stadtteil Paddington. An der östlichen Grenze, nicht weit vom Hyde Park entfernt. Die schmale Stichstraße führte auf die Bayswater Road, die in die Oxford Street übergeht.
Suko hatte den Ehrgeiz, den Wagen noch vor der Bayswater Road einzuholen. Allerdings war er jetzt in eine fatale Lage gedrängt worden. Der Unbekannte hatte ihn gesehen. Flach lag der Chinese auf seinem Motorrad, bot dem schneidenden Fahrtwind so wenig Widerstand wie möglich. Er hatte seine Brille wieder vor die Augen gezogen und hätte sich jetzt Scheibenwischer über dem festen Glas gewünscht. Regentropfen klatschten darauf und erschwerten die Sicht. Suko überholte einen alten Lieferwagen. Das Gefährt rumpelte ganz auf der linken Seite dahin. Es brannte nur ein Rücklicht. Die Straße war schlecht. In zahlreichen Querrillen hatte sich Regenwasser gesammelt, so daß die Gefahr des Aquaplanings bestand. Doch Suko war ein ausgezeichneter Fahrer. Er wußte genau, wann er mit der Geschwindigkeit herunterzugehen hatte und wann er wieder auf die Tube drücken konnte. Und dann riskierte er noch etwas. Während der Fahrt holte er sein Walkie-talkie aus der Seitentasche, hielt es dicht vor die Lippen und schuf die Verbindung mit mir. Suko berichtete in knappen Sätzen.
»Verdammt«, hörte er meine Stimme. »Hast du eine Ahnung, wohin sie fahren?«
»Nein, noch nicht.«
»Bond Street?«
»Möglich.«
»Okay, Suko, wenn du merkst, daß die Agentur ihr Ziel ist, dann sage mir Bescheid. Ich fahre vom Yard aus sofort dahin.«
»Geht in Ordnung. Ende.«
Der Chinese verstaute das Gerät wieder in seiner Tasche. Er machte höllisch Tempo. Die Bäume rechts und links der Straße flogen nur so vorbei. Sie wirkten wie vorbeihuschende Schatten in einem Geisterland.
Suko wußte, daß alles von ihm abhing. Wenn er den Faden verlor, dann sah es böse aus.
Eine Kurve.
Langgezogen. Sie schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Suko drosselte die Geschwindigkeit. Unter den Reifen der Maschine spritzte das Wasser weg. Die helle Lanze des Scheinwerfers schnitt durch die Dunkelheit und zerfaserte zu einem verwaschenen Fleck inmitten des Regenvorhangs. Da sah Suko den Wagen.
Er entdeckte die Rücklichter. Die rechteckigen roten Punkte. Dem Chinesen fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte den Wagen wiedergefunden.
Rasch rückte er näher. Die Rückleuchten wurden größer, glühten plötzlich auf. Der Wagen stoppte. Auch Suko bremste ab. Zu spät.
Urplötzlich tauchte die Tote vor ihm aus dem Regenschleier auf. Sie stand mitten auf der Straße, hatte die Hände ausgestreckt, als wollte sie die heranfegende Maschine aufhalten. Suko bremste stärker.
Da rutschte das Hinterrad weg. Es glitt auf der nassen Fahrbahn zur Seite. Verzweifelt versuchte Suko, die Harley abzufangen, sie auf der Straße zu halten. Doch eine Querrille machte dieses Vorhaben zunichte. Die schwere Harley glitt Suko unter dem Sattel weg. Er selbst wurde von der Maschine katapultiert und prallte auf die Straße. Er wußte nicht, wo oben und unten war, als er von der ungeheuren Fliehkraft weiterbefördert wurde. Da sah er rasend schnell einen Baumstamm auf sich zukommen. Der Aufprall erfolgte blitzartig und mit ungeheurer Wucht. Suko spürte ein Reißen in der Körpermitte, hatte das Gefühl, in zwei Teile gesägt zu werden, schrie unwillkürlich laut auf, und dann
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