0017 - Ich gab ihm eine Chance
Mädchen natürlich nicht allein lassen nach all der Aufregung, zum anderen aber hatte er ja offiziell mit dem Fall nichts zu tun und wollte uns wohl nicht stören. Tun durfte er nichts, und nur herumstehen stört immer. Er wußte das aus seiner eigenen Praxis.
Der Doktor beugte sich über Allan. Dann trat er zurück und sagte: »Machen Sie besser erst Ihre Bilder.«
Ich gab dem Fotografen Anweisungen, wieviel Bilder von dem Toten und aus welchen Blickrichtungen ich sie wollte. Er baute seine Kamera auf und nahm Blitzlichter zu Hilfe. Zwei Fotos schienen ihm besondere Mühe zu ma-, chen, weil er sie vom Garten her aufnehmen mußte und es immer noch regnete.
Als er fertig war, bestand kein Grund mehr, den Leichnam weiter auf der Veranda liegenzulassen. Wir trugen ihn in die Bibliothek und legten ihn auf ein ledergepolstertes Sofa. Darauf konnte die Nässe seiner Kleidung keinen großen Schaden anrichten. Der Doktor untersuchte ihn gründlich.
»Der Schuß ist aus allernächster Nähe abgefeuert worden«, sagte er nach einer Weile. »Im höchsten Fall betrug die Entfernung fünf Meter, aber das ist schon reichlich.«
»Was für ein Kaliber war es?«
»Kann ich noch nicht endgültig sagen. An der Einschußstelle sieht es aus wie neun Millimeter. Aber da keine Austrittstelle zu sehen ist, muß das Geschoß ja noch im Körper stecken, so daß Sie das Kaliber ganz genau feststellen können, wenn ich Ihnen die Kugel schicke.«
»Okay, Doc. Wann kann ich das Geschoß und den genauen Befund haben?«
»Eilt es?«
»Ja!«
»Dann fahre ich gleich mit dem Leichnam in die Anatomie und fange sofort mit der Obduktion an. Morgen früh können Sie die Kugel und meinen ersten Bericht haben. Das genaue Protokoll schicke ich Ihnen dann morgen abend.«
»Wunderbar, Doc. Schicken Sie mir’s in mein Office.«
»Ja, natürlich.«
Er stand auf und packte seine Tasche wieder ein.
»Brauchen Sie den Leichnam noch?« Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Wenn Sie wollen, können Sie ihn gleich mitnehmen.«
Phil und ich trugen ihn hinaus.
***
Kurz nach Mitternacht klingelte das Telefon.
Ich ging hin und meldete mich. Es war der Doktor.
»Hören Sie, Cotton!« sagte er mit aufgeregter Stimme. »Ich habe als erstes versucht, die Kugel zu finden…«
»Na und?« unterbrach ich ihn.
»Cotton, halten Sie sich fest: Es gibt keine Kugel!«
»Es gibt keine Kugel?« fragte ich verblüfft.
»Nein! Es ist kein Geschoß zu finden!«
»Aber, Doktor! Das ist doch absolut unmöglich!«
»Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Nur ist es leider so, daß im Körper des Toten keine'Kugel zu finden ist!«
»Kann der Täter sie vielleicht selbst schon herausgeholt haben?«
»Nein, das ist genauso ausgeschlossen! Ich müßte das sehen können. Er hätte doch irgendein Instrument verwenden müssen. Und das wäre nicht ohne Geweberisse abgegangen. Nein, nein, das hatte ich auch zuerst gedacht, und deshalb habe ich mir das Gewebe um den Einschußkanal natürlich genau angesehen. Also diese Vermutung scheidet völlig aus, das nehme ich auf meinen Sachverständigeneid.«
»Ja, Menschenskind, Doktor, wollen Sie die Naturgesetze über den Haufen werfen? Ein Mann wird erschossen. Die Kugel kommt nicht aus dem Körper heraus, weil man das ja sehen müßte, nicht wahr? Also muß sie noch drin sein, da sie auch nicht gewaltsam zurückgeholt worden ist.«
»Cotton, Sie glauben gar nicht, wie oft ich mir das alles in den letzten zehn Minuten selbst gesagt habe! Aber es bleibt dabei: Es gibt keine Kugel!«
»Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit! Man hat ihn gar nicht erschossen, sondern erstochen!«
»Nein, geht auch nicht! Der Wundkanal rührt eindeutig von einem Projektil her. Ich rufe Sie wieder an, wenn ich mehr weiß.«
»Ja, danke.«
Ich legte den Hörer auf und drehte mich um. Robby kam gerade mit einer neuen Runde Kaffee.
»Was gibt es denn?« fragte er.
Ich ging zur Tür.
»Ich muß erst mal an die frische Luft«, sagte ich. »So etwas Verrücktes ist mir in meinem Leben noch nicht passiert! Da wird ein Mann erschossen — aber ohne Patrone! Wenn ich das Mr. High berichtete, schickt er mich in eine Nervenheilanstalt!«
Damit verließ ich das Haus. Ich war jetzt wirklich bedient.
***
Der Regen draußen hatte endlich aufgehört. Ich ging durch den Garten und sah mich ein bißchen um. Zwischen dem Haus und der Straße lagen etwa sechs Meter Vorgarten. Zur Straße hin grenzte eine hohe Hecke von dichtem Wuchs das Grundstück ab. Ich fand
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