0017 - Wolfsnacht
seiner Bedeutung bewußt zu sein.
Mit einem herablassenden Lächeln erhob er sich.
»Mein Herr, womit kann ich Ihnen dienen? Hatten Sie einen Unfall? Hat man Ihnen etwas gestohlen? Kommen Sie nur zu Capitano Diani. Er regelt alles für Sie.« Mit einem listigen Lächeln fügte er hinzu: »Wir wissen schließlich, was wir unseren Sommergästen schuldig sind.«
Zamorra erwiderte das Lächeln, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich unaufgefordert.
»Capitano, entschuldigen Sie, daß ich Ihre wertvolle Zeit in Anspruch nehme, aber ich habe einige Fragen, die wahrscheinlich nur Sie mir beantworten können.«
»Fragen Sie, fragen Sie. Capitano Diani steht Ihnen zur Verfü- gung.«
Der etwa fünfzig Jahre alte Polizeibeamte holte ein langes Zigarillo aus einem Kistchen in seiner Schublade, begutachtete es und zündete es dann umständlich an. Dann lehnte er sich entspannt zurück, faltete seine Hände über dem Bauch, der sich unter seiner weißen Uniformjacke wölbte, und gab ein Bild gelangweilter Aufmerksamkeit ab.
Das änderte sich sofort, als Zamorra seine erste Frage abschoß.
»Mein Name ist Zamorra, Professor Zamorra.«
Der Capitano straffte sich etwas, sank aber gleich wieder zurück.
Dafür wurde er nicht bezahlt, und Tourist ist schließlich Tourist.
»Capitano, gibt es hier in der Gegend Wölfe?«
Der Polizeioffizier zuckte zusammen. Dabei biß er sein Zigarillo einfach durch. Das freie Ende fiel herunter, blieb kurz auf seiner fleckenlosen Hose liegen, was dieser überhaupt nicht gut tat. Ehe der Beamte mit einem wütenden Laut aufspringen und sich die Hose abklopfen konnte, war diese nicht mehr fleckenlos, sondern luftiger geworden. Ein ziemlich großes Brandloch prangte dicht oberhalb des rechten Polizistenknies.
»Was haben Sie da gesagt? Ich höre wohl nicht recht?«
»Ich habe nur gefragt, ob es in dieser Gegend Wölfe gibt. Ich bin nämlich sicher, heute nacht einen gesehen zu haben – und das gar nicht weit von hier.«
»Signore, Wölfe – ich bitte Sie. Was sollen hier Wölfe? Viel zu heiß. Hier gibt es höchstens streunende Hunde, aber Wölfe? Nein – das können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Vielleicht haben Sie etwas zuviel von dem Vino genossen und statt weißer Mäuse ein anderes Tier gesehen.«
Zamorra schüttelte den Kopf.
»Ich habe keinen Wein getrunken und kann mich auf meine Augen ziemlich gut verlassen. Ich habe heute nacht einen Wolf gesehen. Ein riesiges Tier, das sich gerade anschickte, einer ausnehmend hübschen Dame die Kehle durchzubeißen.«
Dem Capitano trat urplötzlich der Schweiß auf die Stirn. Der Besucher vor ihm wirkte im höchsten Maße normal und nüchtern.
»Signore, bitte erzählen Sie.«
Zamorra erfüllte diese fast flehend ausgesprochene Bitte.
Er ließ nichts aus, und mit jedem Wort sank der vorher so stolze Polizist mehr und mehr in sich zusammen.
Als Zamorra seinen Bericht beendet hatte, reagierte der Mann zuerst überhaupt nicht. Dann hob er sein Gesicht, das nunmehr kalkweiß geworden war. Die Lippen bebten, und die Augen hatten einen gehetzten Ausdruck.
»Der Fluch!« stieß Capitano Diani hervor. »Der Fluch unserer Ahnen! Er hat uns eingeholt. Signore, ich bitte Sie, fahren Sie weiter. Fragen Sie nicht. Fahren Sie weiter. Diese Stadt ist dem Tode geweiht. Ich habe es gewußt. Wir können nicht entrinnen.«
Der Mann schluchzte fast. Er schlug die Hände vors Gesicht, und sein Kopf sank auf die Schreibunterlage. Seine Schultern zuckten unkontrolliert.
Zamorra erhob sich, ging um den Schreibtisch und stieß den Mann unsanft in die Seite.
»Reißen Sie sich zusammen. Was ist das mit dem Fluch? Wem können Sie nicht entrinnen? Was haben Ihre Vorfahren damit zu tun?«
Man konnte richtig sehen, wie sich der Polizist innerlich aufraffte und sich zur Ruhe zwang.
»Gehen Sie ins Bürgermeisteramt und fragen Sie nach Carlo Gionti. Er ist der Bibliothekar und führt unser Stadtarchiv. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Fragen Sie nach der Casa Diabolo in den Bergen. Und dann fahren Sie weiter, Signore, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
Zamorra verstand überhaupt nichts.
Bei der Erwähnung des Hauses Casa Diabolo wurde er zwar stutzig, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Aus dem Polizisten war allerdings auch nichts mehr herauszuholen, das war ihm klar. Also ging er zur Tür.
»Ob ich weiterfahre, Capitano, kann ich Ihnen nicht versprechen. Denn Geheimnisse interessieren mich brennend. Vielleicht sprechen wir uns noch
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