0019 - Die Schreckenskammer
Einmündung des Wegs? Jim Coltrane blieb stehen, kniff die Augen zusammen – und glaubte, ganz deutlich die Umrisse einer Gestalt zu erkennen.
Er hielt den Atem an.
Sein Herz hämmerte plötzlich. Ein Windstoß strich durch die Büsche, die Schatten verschwammen – doch schon im nächsten Moment riß wieder die Wolkendecke auseinander.
Mondlicht ergoß sich über die Landschaft. Wie ein silberner Schleier fiel es über den Weg, erfaßte die schlanke Gestalt, eine lange blonde Haarmähne – und ein Gesicht, das Jim Coltrane nur zu gut kannte.
»Claire!« flüsterte er. »Claire, du…«
Sie zuckte zusammen.
Ihre blauen Augen weiteten sich vor Schrecken. Sekundenlang stand sie starr da, geisterhaft blaß, mit bebenden Lippen – dann hob sie die Hände zu einer abwehrenden Geste und warf sich herum.
Jims Stimme krächzte.
»Claire!« schrie er. »So warte doch! Claire – Claire!«
Sie hörte nicht.
Wie ein Schatten huschte sie über den gewundenen Weg – lautlos, als schwebe sie. Irgend etwas an dieser blinden Flucht wirkte unheimlich, Jim hatte das Gefühl, als treffe ihn der Eishauch einer unbekannten Drohung. Er achtete nicht darauf. Zu lange hatte er seine Schwester gesucht, zu stark war der Wunsch, endlich die Erklärung für ihr rätselhaftes Verschwinden zu finden. Noch einmal rief er ihren Namen, schrie mit voller Lungenkraft, dann warf er sich nach vorn, verließ die Straße und rannte über den unbefestigten Weg, so schnell er konnte.
Claire nahm eine Biegung.
Für Sekunden entzog dichtes Buschwerk sie seinen Blicken. Jim rannte weiter, stolperte, verlor fast das Gleichgewicht und fing sich wieder. Er keuchte. Ganz kurz glaubte er, den silbernen Schimmer von Claires wehendem Haar zu sehen – dann prallte er zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Zwei Männer standen vor ihm.
Wie aus dem Boden gewachsen standen sie da und versperrten den Weg. Beide waren groß und breitschultrig, beide trugen dunkle Trenchcoats, und schon auf den ersten Blick nahm Jim den starren, eigentümlich maskenhaften Ausdruck ihrer Gesichter wahr.
Sie lächelten.
Aber es war kein menschliches Lächeln, es war nicht freundlich, nicht amüsiert, nicht einmal zynisch – es war nichts weiter als die unnatürliche, mechanische Grimasse einer Puppe.
Jim Coltrane hatte das Gefühl, als dringe die jähe Kälte bis ins Mark seiner Knochen.
Er kannte die beiden Männer nicht.
Er wußte nicht, was sie von ihm wollten, und er wußte nicht, was sie mit seiner Schwester zu tun hatten.
Aber er spürte instinktiv, daß dies alles nicht normal war, nicht irgendeine kritische Situation, die er vielleicht meistern konnte und die Furcht in ihm schlug um in blinde Panik.
Wie von einer Bogensehne abgeschnellt wirbelte er um die eigene Achse.
Er rannte. Zurück über den Weg! Sein Herz hämmerte hoch im Hals, sein Atem ging stoßweise. Hinter sich hörte er Stimmen, Schritte. Erneut traf ihn eine Woge von Panik, peitschte ihn förmlich vorwärts, und er stolperte mit jagendem Puls und zitternden Knien weiter, bis er die Straße erreichte und Asphalt unter den Füßen spürte.
Die Verfolger blieben zurück.
Jim rannte weiter, brauchte fast drei Minuten, bis ihm klar wurde, daß niemand mehr hinter ihm her war. Er blieb stehen, taumelte gegen einen Baumstamm und pumpte Luft unter seine brennenden Rippen. Das Rauschen in seinen Ohren ebbte nur allmählich ab. Jim lauschte, konzentrierte alle seine Sinne auf die Umgebung doch er konnte nichts Verdächtiges wahrnehmen.
Trotzdem hastete er weiter, sobald er sich einigermaßen erholt hatte. Immer noch steckte ihm die Angst in den Knochen, immer noch fürchtete er, daß die beiden Männer wieder auftauchen würden. Erst als er in der Ferne bereits die Lichter von Redhorn sah, arbeiteten seine Gedanken wieder klarer.
Die Furcht ließ nach, seine Vernunft setzte ein. Er verstand nicht mehr, was ihn überhaupt so in Panik versetzt hatte. Die Begegnung mit Claire? Die beiden Männer mit den starren, unheimlichen Gesichtern? Hatten sie denn tatsächlich unheimlich ausgesehen? Jim wußte es nicht mehr, kam nach und nach zu der Überzeugung, daß er sich das wohl nur eingebildet hatte, und machte sich Vorwürfe, weil er so einfach davongelaufen war.
Claire befand sich in Gefahr, soviel stand fest. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr. Vielleicht war sie entführt worden. Vielleicht hatte sie versucht, den beiden Männer zu entkommen, vielleicht aber…
Aber warum, um
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