002 - Der Hexenmeister
»Heute habt Ihr erst einige Buchstaben kennen gelernt. Was folgt, ist noch viel schwieriger. Ihr hattet gewiss auch den Eindruck gehabt, dass die unsichtbaren Kräfte Euch feindlich gesinnt waren?«
»O ja, sehr stark sogar.«
»Das ist nur Einbildung, glaubt mir. Je mehr Erfahrungen man gesammelt hat, um so mehr gelangt man zu der Überzeugung, dass sie sich willig dienstbar machen lassen. Ihr werdet ganz Erstaunliches erleben. Doch der erste Kontakt mit diesen Kräften flößt jedem Angst ein. So, und nun kommt, jetzt wollen wir uns über etwas anderes unterhalten. Ihr müsst Euch ein wenig erholen.«
Der Meister führte mich nicht in den unterirdischen Raum zurück, in dem er mich empfangen hatte, sondern geleitete mich über eine Geheimtreppe hinauf ins Haus. Es tat gut, das helle Himmelslicht wieder zu sehen, die grünen Bäume, das Atelier von Lionnel, das mir schon vertraut war, und das Gemälde, das er von mir angefertigt hatte. Lionnel erwartete uns. Das Mädchen war bei ihm. Sie stand an einem Tisch, auf dem ein Imbiss aufgetragen war.
»Laura, das ist Georges Lenand. Und das ist meine Nichte Laura«, sagte der Meister. »Ich bin Witwer, deshalb ist Laura hier die Hausfrau. Lionnels Frau ist für einige Monate nach Italien gereist.«
»Ich freue mich, dass Ihr nun auch zu den Unseren gehören werdet«, sagte Laura. »Lionnel hat mir schon viel von Euch erzählt.«
Sie gab mir die Hand, und wir sahen uns tief in die Augen.
Ihre Stimme klang mir wie eine bezaubernde Melodie. Nach dem Alptraum, den ich soeben durchlebt hatte, war ich von ihrem Charme und ihrer Schönheit wie geblendet. Die Liebe, die ich sofort bei ihrem Anblick empfunden hatte, vertiefte sich nun zur unauslöschlichen Leidenschaft.
Lionnel war sehr erfreut darüber, dass ich nicht versagt hatte. Seinem Vater gegenüber hatte er schon zuvor geäußert, dass ich gewiss sein bester und erfolgreichster Schüler sein würde.
»Ich habe Euch absichtlich einer besonders schweren Prüfung unterzogen«, sagte der Meister. »Von vornherein war ich nämlich überzeugt davon, dass ihr Besonderes zu leisten vermögt. So, und nun esst und trinkt, mein Freund.«
Ich tat es. Wenn ich dabei den Blick auf Laura richtete, schoss mir heiß das Blut zum Herzen. Ich erfuhr, dass sie sehr gut malte und überaus musikalisch war. Wir sprachen über die Universität und über die schlechten Zeiten, unter denen das ganze Land zu leiden hatte. Einen Augenblick lang wurde mir bewusst, dass ich ja eigentlich ein ganz anderer war, jemand, der in einem ganz anderen Zeitalter lebte, aber dieses Gefühl verging sofort wieder.
Es war bereits dunkel, als ich mich von meinen Gastgebern verabschiedete. Bald darauf schritt ich durch die Straßen von Paris auf meine Wohnung zu. Kaum hatte ich die Haustür geöffnet, als es in meinem Geist plötzlich dunkel wurde. Im nächsten Augenblick sah ich mich um – und ich befand mich wieder in meiner Wohnung und im 20. Jahrhundert.
Auch Lionnel war zurückgekehrt. Ebenfalls Hervé und Patrick. Sie saßen um mich herum und sahen mich lächelnd an.
Wie sie mir sagten, waren sie schon eine Viertelstunde vor mir zurückgekommen, Lionnel dagegen erst vor wenigen Minuten. Vor allem Patrick war sehr erregt.
»Das ist wirklich ein ganz ungewöhnliches Abenteuer«, sagte er. »Hervé und ich haben mehrere Stunden lang im Paris des 15. Jahrhunderts gelebt. Wir waren die ganze Zeit zusammen, Hervé und ich. Das Gefühl, plötzlich in die Vergangenheit versetzt worden zu sein, das ich zu Anfang hatte, ist dann rasch geschwunden. Erlebt haben wir eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wir gingen nur spazieren und suchten auch ein Wirtshaus auf. Alles war erstaunlich klar und deutlich. Man hatte keineswegs den Eindruck, nur zu träumen. Wir wussten, dass wir verheiratet waren«, fuhr er fort, »und wir liebten unsere Frauen. Ich hatte einen Sohn, Hervé einen Sohn und eine Tochter. Unterwegs begegneten uns Freunde, mit denen wir uns eine Weile unterhielten. Mein Leben im 20. Jahrhundert hatte ich fast vergessen. Nur ab und zu wurde ich mal daran erinnert, doch sonst war ich ganz und gar der ›andere, der vor vierhundert Jahren lebte. Sicher handelte es sich um einen direkten Vorfahren von mir.«
Dann erzählten Lionnel und ich, was wir erlebt hatten.
»Könnt ihr euch daran erinnern, dass ihr einer Gruppe von Männern angehört habt, die von Michel Dosseda geleitet wurde? Seid ihr von ihm in eine Art Bruderschaft aufgenommen
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