002 - Der Hexenmeister
worden?«
»Allerdings«, erwiderte Patrick. »Meine Aufnahme hatte acht Tage zuvor stattgefunden, und die von Hervé wurde gerade durchgeführt. In ein oder zwei Wochen sollte sie beendet sein. Ich wusste jedoch nicht – obwohl ich dich schon drei oder vier Jahre kannte –, dass du einer der Unseren geworden warst. Michel Dosseda, dein Vorfahr, Lionnel, war wirklich ein bedeutender Mann, ein ungewöhnlicher Denker. Nach seiner Anleitung konnte ich ganz unglaubliche Dinge vollbringen.«
Ich dachte an Laura. Im Geist sah ich sie so schön und lebensfroh, in einem Kleid aus dunklem Samt. Dieses Bild schob sich vor das bleiche Gesicht der Ertrunkenen in dem weißen Kleid.
»Was hältst du von alledem?« fragte ich Patrick. »Was denkst du über die Figuren, die diesen hier gleichen? Und was hältst du von den unsichtbaren Kräften, die ihnen innewohnen? Ist denn das nicht Zauberei?«
Es dauerte eine Weile, ehe Patrick antwortete.
»Bisher habe ich nicht an Zauberei geglaubt«, sagte er, »und ich glaube auch jetzt noch nicht daran. Alles was man nicht versteht, alles was man sich nicht erklären kann, nennt man Zauberei. Es gibt aber meiner Meinung nach für alles eine ganz natürliche Erklärung, nur findet man sie manchmal eben nicht. Der Meister selbst behauptet ja auch nicht, dass er zaubert.«
Ich stellte fest, dass Patrick die Bezeichnung »der Meister« mit einer Selbstverständlichkeit gebrauchte, als sei er daran schon seit langem gewöhnt.
»Der Meister ist eben ein Genie«, fuhr Patrick fort, »das seiner Zeit weit voraus ist. Sicher hat er dir auch erklärt, Georges, dass die Form der Figuren unwichtig ist und dass es nur auf das Material ankommt, aus dem sie bestehen. Außerdem haben wir gesehen, dass sich das Metall verwandelte, wenn die der Figur innewohnenden Kräfte benutzt wurden. Es muss sich um eine Art atomarer Umwandlung handeln. Vielleicht hat Michel Dosseda in Wirklichkeit eine Entdeckung auf dem Gebiet der Physik gemacht, die uns heute noch unbekannt ist. Aber du, Lionnel, müsstest doch etwas mehr darüber wissen. Du warst ja damals sein Sohn.«
»Viel mehr weiß ich auch nicht«, erwiderte Lionnel. »Soviel mir bekannt ist, stand mein Ahne – oder sagen wir, mein Vater, wenn du willst – erst am Anfang seiner Experimente. Er hatte sich sehr hohe Ziele gesteckt und war überzeugt, dass durch seine Entdeckung, durch die unsichtbaren Kräfte, mit denen er arbeitete, der Mensch eines Tages wie ein Vogel durch die Lüfte fliegen könnte, dass diese Kräfte Apparate und Maschinen betreiben würden, die den Menschen das Leben erleichtern würden. Er wollte Licht schaffen, das die Nacht zum Tage machte, wollte auf mannigfache Weise die unsichtbaren Kräfte der Natur in den Dienst der Menschheit stellen.«
»Ja«, sagte Patrick nachdenklich. »Inzwischen haben wir das ja auch geschafft, auf andere Weise. Und er hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.«
»Ich weiß auch nichts weiter«, bemerkte ich, »außer dass ich auf dem Scheiterhaufen enden werde. Ich muss euch ein Geständnis machen: Als ihr gestern Abend plötzlich alle drei verschwunden wart, hatte ich Angst. Ich spürte die Gegenwart von etwas Unsichtbarem. Dann hörte ich eine Stimme – es kann sein, dass sie nur in meinem Geist existierte –, die sagte: ›Fürchte dich nicht … Es wird alles gut gehen … Das Erlebnis von neulich war ein Irrtum … Du wirst es nicht noch einmal erleben müssen …«
»Ich wurde also nur irrtümlich zu einem Zeitpunkt in die Vergangenheit zurückversetzt, der kurz vor meiner Hinrichtung lag. Sie fand im Juni statt. Am 6. Juni 1408. Heute haben wir uns nun alle im Paris jenes Jahres, aber im Frühling wieder gefunden – Ende März. Woher kam aber die Stimme, die mich beruhigte? Hast du eine Idee, Lionnel?«
»Nein, aber ich weiß, dass mein … dass der Meister mit unsichtbaren Kräften in Verbindung getreten war und sie unter seinen Willen gezwungen hatte.«
»Das finde ich nicht weiter verwunderlich«, sagte Patrick. »Wir haben uns ja heute auch die Elemente dienstbar gemacht, nur mit dem Unterschied, dass wir in jedem Fall genau erklären können, wie uns das gelungen ist. Was ich viel erstaunlicher finde, ist die Tatsache, dass wir in die Vergangenheit zurückkehren können. Alle diese Menschen, mit denen wir in der Sonne spazieren gegangen sind, die wir gesehen und gesprochen, mit denen wir getrunken und gegessen haben – sie sind doch schon seit vielen hundert Jahren tot. Selbst
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