002 - Der Hexenmeister
Material – eine Art Pulver, mit dem man sehr behutsam umgehen muss – und er vermischt es dann mit dem Blei. Es ist ein sehr kompliziertes Verfahren. Nur ein Mensch ist imstande, diese schwierige Arbeit richtig durchzuführen.« Der Meister zögerte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Ich kann euch ruhig sagen, wer es ist. Ihr müsst es natürlich für Euch behalten. Es ist Nivolas Flamel, den Ihr ja kennt.«
Und ob ich ihn kannte. Wer kannte ihn nicht, den berühmten alten Mann, der als Dichter ebenso angesehen war wie als Philosoph und Maler. Dieser sagenhafte reiche Greis, der immer in einen weiten Umhang gehüllt war und dessen durchdringender Blick einem auf den Grund der Seele zu gehen schien, hatte mich immer tief beeindruckt.
»Ja, ich kenne ihn«, erwiderte ich. »Einige Male habe ich auch schon mit ihm ein paar Worte gewechselt. Man hält ihn für einen Hexenmeister.«
Michel Dosseda lächelte. »Das ist er nicht. Er ist es ebenso wenig wie ich. Er kann zwar Gold herstellen, aber das ist nicht mit Zauberei verbunden. Er weiß genau, wie die Stoffe zusammengesetzt sind, die man in der Natur findet, wie sie sich verändern, was geschieht, wenn man sie miteinander vermischt … Er ist ein großer Wissenschaftler.«
»Wie kommt es, dass er nicht unserer Bruderschaft angehört?« fragte ich. »Weiß er, was wir Vorhaben und womit wir uns beschäftigen?«
»Er weiß es nicht genau, aber er ahnt es, und er zieht es vor, sich abseits zu halten. Er macht Experimente auf einem anderen Gebiet – noch weiterreichende. Er beschäftigt sich damit, herauszufinden, wie der Mensch den Tod besiegen, wie er unsterblich werden kann. Er hat mir gesagt, dass es ihm vielleicht schon bald gelingen wird, sein Ziel zu erreichen. Nivolas Flamel ist der Ansicht, dass die Experimente, die wir durchführen verfrüht sind. Er sagt, die Welt sei noch nicht reif für das, was wir Vorhaben. Wir müssten sehr vorsichtig sein, meint er, denn sonst könnten wir in große Gefahren kommen. Es wäre besser, mit der Dienstbarmachung unsichtbarer Kräfte noch vier oder fünf Jahrhunderte zu warten. Nun, da er vielleicht nicht mehr sterben wird, hat er natürlich viel Zeit für seine Arbeit. Wenn es ihm wirklich gelingt, den Tod zu besiegen, liegen noch Jahrhunderte vor ihm. Aber wir, wir armen Sterblichen, wir dürfen keine Zeit verlieren, um unsere Ziele zu erreichen, ehe wir sterben müssen.«
In diesem Augenblick war ich versucht, Michel Dosseda zu sagen, dass ich wisse, wie die Welt in fünfhundert Jahren aussehen werde. Doch als ich den Mund öffnete, kam kein Wort über meine Lippen, und eine graue Wolke schien plötzlich meinen Geist zu umnebeln. Ich vergaß, was ich sagen wollte.
»Flamel hilft uns aber in jeder erdenklichen Weise«, fuhr der Meister fort. »Er ist für jedes geistige Wagnis aufgeschlossen. Es ist ihm gelungen, Gold herzustellen, und er gibt uns davon, um unsere Arbeiten zu finanzieren. Doch sprecht darüber mit niemandem, Georges, auch nicht mit meinen Schülern. Außer meinem Sohn, reiner Nichte und Jacques Viel weiß niemand, dass Nivolas Flamel uns hilft. Ich sage es Euch, weil Ihr mein Lieblingsschüler seid.«
Ich freute mich sehr über die Worte des Meisters. Wenn er mich noch besser kannte, durfte ich es vielleicht sogar wagen, um Lauras Hand anzuhalten.
Wenn Hervé, Patrick, Lionnel und ich uns im 20. Jahrhundert wieder trafen, sprachen wir fast nur noch von unserem Leben in der Vergangenheit, von unserem anderen Leben. Was um uns herum vor sich ging, interessierte uns kaum noch. Natürlich fuhren wir manchmal im Wagen durch die Stadt, gingen ins Kino oder trafen Freunde, doch hauptsächlich lebten wir im 15. Jahrhundert, unter der Herrschaft des geisteskranken Karl VI., und sprachen fast nur noch über die Probleme der danötigen Zeit, die immer mehr die unsere wurde.
Am 26. April 1408 traf sich die ganze Bruderschaft bei Michel Dosseda. Der Meister war ruhig und freundlich wie stets. Dennoch spürte ich, dass er irgendwie angespannt wär.
»Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen«, sagte er, »unsere Experimente etwas weiterzutreiben. Wir müssen auch einmal einen Versuch außerhalb der Kellergewölbe unternehmen. Was haltet Ihr davon?«
»Glaubt Ihr nicht, dass es noch etwas zu früh dafür ist?« fragte Jacques Vel. »Woran hattet Ihr denn gedacht? Was für ein Experiment wollt Ihr durchführen?«
Michel Dosseda lächelte. »Keine Sorge, ich will nicht etwa in Paris Wunder
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