002 - Der Hexenmeister
um dort weiterzuleben?«
»Nein, warum? Laura ist tot. Und auch alle anderen, die mir nahe standen, leben nicht mehr. Was soll ich noch dort? Wissen Sie, was aus mir in der Vergangenheit nach Lauras Tod geworden ist?«
»Ja«, erwiderte er. »Ich bin ein halbes Jahr später nach Paris zurückgekehrt. Sie waren an der Pest gestorben – das heißt Ihr Ahne – vier oder sechs Wochen nach Laura. Jean de la Brune, in dessen Armen Sie starben, ging dann nach Italien. Vor Ihrem Tod hatten Sie ihm Lauras Medaillon gegeben. Er sollte es ihrem Bruder in Florenz überbringen. Ihr Sohn, der bei Ihrer Tante aufwuchs, wurde später auch Professor an der Universität. Das ist alles, was ich weiß.«
Wir schwiegen eine Weile. Dann fragte ich: »Und warum haben Sie mich gesucht?«
»Weil ich die Figur von Ihnen zurückhaben wollte. Ich möchte noch weitere Untersuchungen mit ihr anstellen. Vielleicht enthüllt sich mir dann ihr Geheimnis.«
»Gut, gehen wir zu mir. Ich gebe Ihnen die Figur gleich.«
»Nein«, erwiderte er, »ich habe heute noch verschiedenes zu erledigen, und am Abend fliege ich schon nach Indien zurück. In vier Monaten komme ich wieder. Es scheint mir auch besser, wenn die Figur in Paris bleibt. Hier, nehmen Sie diesen Schlüssel. Er gehört zu einem Schließfach der Bank von Frankreich in der Rue Auber. Ich habe das Fach unter meinem Namen gemietet und Weisung hinterlassen, dass Sie berechtigt sind, es zu öffnen. Legen Sie die Figur in diesen Banksafe. Ich habe dort auch einige andere Anweisungen gegeben, die Sie betreffen.«
»Alles Gute, Georges«, sagte er.
Ich sah ihm nach, als er rasch davonging. Er stieg in ein Taxi und war gleich darauf verschwunden. Die Begegnung mit ihm schien mir fast unwirklich, wie ein Traum. Nur mein Schmerz um Laura, die tiefe Trauer, mit der mich die Trennung von ihr erfüllte, war kein Traum.
Es wurde dunkel. Ich hatte seit langer Zeit nichts mehr gegessen, aber ich verspürte auch keinen Hunger. Ich erhob mich und wanderte ziellos durch die Straßen. Fast durch Zufall kam ich eine Stunde später zu meiner Wohnung. Ich betrat das Haus und ging hinauf. In meiner Wohnung angekommen, nahm ich die Figur und steckte sie in die Tasche. Dann ging ich wieder hinunter.
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr los. Es war inzwischen Nacht geworden. Lange fuhr ich ziellos durch die Straßen. Ich kam in Gegenden, die ich noch nie gesehen hatte. Wie ein Roboter hielt ich an, wenn die Ampeln auf Rot standen, und bei Grün fuhr ich weiter, ohne zu wissen wohin. Mein Geist war wie umnebelt. Ich dachte nicht einmal mehr an Laura. Ich empfand auch keinen Schmerz mehr.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich irgendetwas tun musste. Ich sollte doch die schreckliche Figur irgendwohin bringen. Ich bog in eine breite Hauptstraße ein, die mich ins Zentrum von Paris zurückbrachte. Bald fuhr ich wieder am Ufer der Seine entlang. In der Nähe einer Brücke sah ich junge Leute, die aus einem Motorboot stiegen. Ein Motorboot … das erinnerte mich an irgendetwas … Woran nur?
Im Vorüberfahren sah ich die Tournelle-Brücke und die dunklen Wellen der Seine. Dort hatte Laura sich ertränkt … Aber sie war doch an der Pest gestorben … Und ich sollte doch auch an der Pest sterben. War es nicht besser, einfach Schluss zu machen wie sie? Vielleicht traf ich sie wieder in der düsteren Nacht des Todes.
Ich hielt den Wagen an. Es schien schon ziemlich spät zu sein, denn es waren nur noch wenige Leute auf der Straße. Ich sah meinen Hausmeister mit seinem Hund am Ufer der Seine entlang spazieren.
Ich nahm die Bleifigur in die Hand. Dann holte ich aus dem Kofferraum einige Schnüre, die dort lagen. Mit entschlossenem Schritt ging ich zum Ufer.
Bald stand ich an der Stelle, wo wir Laura hingelegt hatten, nachdem sie von Patrick an Land gebracht worden war. Ich setzte mich auf die Erde und fesselte mir die Füße. Dann band ich mir die Hände zusammen. Es war kein Stein, den ich ins Wasser warf, wie die Zeugen ausgesagt hatten. Es war die unselige Figur. Mit Erleichterung sah ich sie in den Wellen verschwinden. Dann stürzte ich mich hinterher.
So, Herr Doktor, jetzt wissen Sie alles.
Ich möchte mich noch bei Ihnen bedanken für all Ihre Freundlichkeit und die Mühe, die Sie sich mit mir gegeben haben während der sechs Wochen, die ich hier verbracht habe. Sie haben mir mit Ihrer Güte sehr geholfen. Unsere Gespräche haben mich für Stunden das Leid vergessen lassen, das mich erfüllte.
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