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002 - Der Safe mit dem Rätselschloß

002 - Der Safe mit dem Rätselschloß

Titel: 002 - Der Safe mit dem Rätselschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Wallace
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ausgesucht höflich, ja beinahe untertänig gegen sie gewesen war, und nun er das Buch gefunden hatte, beachtete er sie überhaupt nicht mehr. Er brachte es ihr nicht, bat sie auch nicht, es mit ihm anzusehen. Sie fühlte, daß sie »erledigt« war, und des Anwalts Interesse für ihre Sache im Augenblick der Entdeckung des Buches vollkommen erloschen war.
    Sorgfältig blätterte er die Seiten um, aufmerksam las er die Einleitung. Ihre Blicke wanderten von dem Buch zu seinem Gesicht. Nie zuvor hatte sie ihn mit kritischer Aufmerksamkeit betrachtet. Im Halbdunkel sah sie jetzt seine Unvollkommenheiten - die brutale Kraft seiner Kinnbacken, die skrupellose Dünnheit seiner Lippen, die schweren Augenlider und die merkwürdige Glätte seines bleichen Gesichts. Es schauderte sie ein wenig, denn sie hatte zuviel in seinen Zügen gelesen.
    Der Anwalt war sich ihrer prüfenden Blicke nicht bewußt. Das Buch nahm ihn ganz in Anspruch, eine Seite nach der anderen las er.
    »Glauben Sie nicht, daß es besser wäre, wir gingen nun?« fragte Kathleen schüchtern.
    Spedding sah auf, und sein starrer Blick entsprach seinen Worten.
    »Wenn ich fertig bin, gehen wir«, sagte er grob und fuhr fort zu lesen.
    Kathleen mußte vor Staunen ein wenig Luft holen, denn trotz all ihres Argwohns war sie doch nicht darauf gefaßt, daß er seine liebenswürdige Maske so schnell und so vollkommen fallenlassen würde. Dunkel begann sie die Gefahr zu ahnen, aber es konnte ja nichts geschehen: Draußen wartete der Chauffeur. Es war ihr eine Beruhigung und verlieh ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie machte einen zweiten Versuch.
    »Ich muß darauf bestehen, Herr Spedding, daß Sie dies Buch anderswo zu Ende lesen. Ich weiß nicht, ob Sie sich der Tatsache bewußt sind, daß Sie auf dem einzigen Stuhl in diesem Zimmer sitzen«, fügte sie aufgebracht hinzu.
    »Ich bin mir der Tatsache sehr wohl bewußt«, erwiderte ruhig der Anwalt, ohne die Augen zu heben.
    »Herr Spedding!« Müde blickte er auf.
    »Darf ich Sie ersuchen, sich ruhig zu verhalten, bis ich zu Ende bin«, sagte er in einem nicht zu verkennenden Ton. »Und sollten Sie noch irgendeinen Zweifel hegen, daß ich nicht in Ihrem, sondern in meinem eigenen Interesse nach dem Wort suche, so darf ich Ihnen vielleicht mitteilen: Wenn Sie mich durch Heulerei oder irgendeine Szene aufbringen und ärgern, so habe ich etwas bei mir, das Sie zur Ruhe bringen wird«, und damit las er weiter.
    Kalkweiß und schweigend stand das Mädchen da, wild klopfte ihr Herz, und Fluchtpläne gingen ihr durch den Kopf. Nach einer Weile sah der Anwalt auf und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Buch.
    »Ihr kostbares Geheimnis ist kein Geheimnis mehr«, sagte er mit einem harten Lachen. Kathleen antwortete nichts.
    »Wäre ich kein solcher Narr gewesen, so hätte ich es schon längst durchschaut«, fügte er hinzu und sah das Mädchen nachdenklich an.
    »Ich habe zwei Vorschläge zu machen«, fuhr er fort, »und ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Erwarten Sie keine Hilfe von mir, Herr Spedding«, erwiderte sie kalt. »Morgen wird man eine Erklärung für Ihr sonderbares Betragen von Ihnen fordern.«
    Er lachte.
    »Morgen, und wer? Angel vielleicht oder der vornehme junge Gauner, der halb in Sie verliebt ist?«
    Er lachte noch einmal, als er sah, wie dem jungen Mädchen die Röte in die Wangen stieg. »Aha! Ich hab’s getroffen!«
    Sie nahm seine Worte mit verächtlichem Schweigen auf. »Morgen bin ich weg - weit weg, hoffe ich, aus der Reichweite der beiden erwähnten Herren. Das Morgen interessiert mich lange nicht so wie das Heute.« Es fiel ihr ein, daß es nur noch eine Stunde bis Tagesanbruch war.
    »Heute ist ein schicksalsschwerer Tag für mich - und für Sie.« Er betonte die letzten Worte. Sie verharrte in eisigem Schweigen.
    »Wenn ich meinen Fall in ein paar Worten erklären soll«, fuhr er mit all der früheren Liebenswürdigkeit fort, »so darf ich wohl sagen, daß es für mich eine Notwendigkeit ist, das Geld in jenem lächerlichen Safe zu beschaffen.« Sie unterdrückte einen Ausruf. »Ah! Sie begreifen? Ich will mich näher erklären. Wenn ich sage: das Geld zu beschaffen, so meine ich: es für mich zu beschaffen, bis auf den letzten Pfennig, und es für meinen Privatgebrauch zu verwenden. Sie können sich nicht vorstellen«, fuhr er fort, »wie wohltuend es ist, endlich die unausgesprochenen Gedanken eines ganzen Jahres frei herauszusagen, einem menschlichen Wesen die geheimsten Dinge mitzuteilen, die

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