002 - Der Unheimliche vom Todesschloß
erlebt haben.«
Gautier musterte Jacinthe. Natürlich war das Mädchen noch sehr jung, doch der Gesichtsschnitt glich dem von Madeleine. Ja, eine Tochter von Madeleine müßte so aussehen wie dieses Kind.
Er wandte sich ab, als eine einzelne Träne sich aus dem vereiterten Auge löste und seine Wange herabrann.
»Monsieur, was ist mit dem jungen Herrn geschehen, der vor zwei Nächten hier beim Chateau war?« fragte Jacinthe.
Gautier fuhr herum. Sie erschauerte von neuem, als sie ihm in das verunstaltete Gesicht sah.
»Er ist tot. Die Spinnen haben ihn gefressen.« Er lachte laut los. Der zahnlose Mund verzog sich. »Er ist tot«, wiederholte er.
Jacinthe spürte, daß er die Wahrheit sprach. Sie legte ihre Arme um die Knie. »Warum?« schluchzte sie auf. Kälte stieg zu ihrem Herzen empor. Eisige Kälte. Die Kälte des Todes. »Und Gaston, der alte Häusler? Was ist aus dem geworden?«
»Auch tot«, krächzte der Unheimliche.
Gautier näherte sich ihr und legte ihr seine Krallenhände auf die Schultern. Jacinthe hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
»Und du wirst auch sterben«, sagte er. Das sehende Auge, von Eiterbeulen umgeben, beobachtete sie scharf.
»Nein…«, stieß Jacinthe hervor. »Monsieur, warum…?«
»Ich muß es tun. Madame hat es befohlen.« Er riß sie zu sich hinauf. Ganz dicht war sein Gesicht jetzt vor ihren Augen.
Sie zwang sich, seinen Blick scheinbar ruhig zu ertragen. Nur die Tränen rannen ihr über die Wangen, unaufhörlich, pausenlos.
Er streckte einen Krallenfinger aus und wischte eine der Tränen von ihrer Haut ab. Ganz nah an sein Auge hielt er den Finger mit dem Tropfen und stierte ihn an.
Er muß den Verstand verloren haben! dachte Jacinthe. Er ist sehr krank. So gräßlich er auch ist, man muß Mitleid mit ihm haben.
»Sie verachten mich, ja?« fragte er erneut. »Sie ekeln sich vor mir?«
»Nein, Monsieur«, gab Jacinthe zitternd zur Antwort. »Ich würde Ihnen gern helfen. Sie müssen ein schweres Schicksal ertragen.«
Er starrte sie an und schien nachzudenken. Dann drehte er sich langsam um.
»Wehren Sie sich nicht«, flüsterte er wie im Fieber. Er packte Jacinthe. Ihr blieb der Atem stehen vor Entsetzen. Scheinbar mühelos schwang er sie über seine Schulter. Er trug sie in die Burghalle, verharrte sekundenlang und schlich dann die Treppe hinauf.
Jacinthes Kopf hing an seinem Rücken herab. Sie war vor Grauen fast bewußtlos. Und sie spürte, wie nah ihr Ende war. Er hatte über den Tod von Colombier und dem alten Gaston geringschätzig gesprochen. Sie spürte immer deutlicher, daß der Tod ihm nichts bedeutete.
Im Dachgeschoß stieß er eine Tür auf. Sie knarrte. Erschrocken hielt er inne. Erst als sich nichts in der Burg rührte, trug er Jacinthe in das Zimmer.
Halbdunkel herrschte dort. Eine Fledermaus hing wie leblos am zerbrochenen Fenster.
Gautier ließ Jacinthe auf den Boden sinken.
»Still«, sagte er. »Kein Wort. Keinen Laut.« Er legte einen der Krallenfinger auf den zahnlosen Mund.
Jacinthe drückte sich in eine Ecke. Furchtsam sah sie zu ihm auf.
»Lassen Sie mich laufen, Monsieur!« bibberte sie.
»Still. Nichts sagen. Sonst…« Er schwieg bedeutungsvoll.
Jacinthe fröstelte. Sie begann zu ahnen, daß sie noch eine winzige Frist erhalten hatte. Er würde sie töten, aber der Zeitpunkt schien ihm noch zu früh zu sein.
Sie schloß die Augen. Seine Schritte entfernten sich. Er ging wirklich zur Tür, ohne ihr etwas anzutun!
Aber er würde wiederkommen, sie wußte es.
Die Tür wurde von außen geschlossen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß.
Sie war hier oben eingesperrt. Und wenn niemand sie hier fand, würde sie verhungern. War das der Tod, den er ihr zugedacht hatte? Sie stöhnte auf.
Jacinthe begann, den Dachraum zu untersuchen. Ein Bündel lag unterm Fenster. Sie fror so sehr, daß sie hoffte, es könnte eine Decke sein.
Im Halbdunkel des Raumes betastete sie das Bündel.
Dann fuhr sie zurück.
Sie hatte eine kalte, starre Hand gefühlt.
Wimmernd warf sie sich zurück. Sie verharrte einige Sekunden so, dann wagte sie es von neuem, einen Blick auf das Bündel zu werfen.
Als sie es mit dem Finger anstieß, kippte es ihr entgegen. Im letzten Augenblick sprang sie zurück.
Vor ihr lag der Erhängte. Die Zunge hing ihm aus dem Mund. Die Augen wirkten wie Glasmurmeln. Sie waren glotzend aus den Höhlen getreten und sahen Jacinthe an.
Jetzt war es um Jacinthes Nerven geschehen.
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