0027 - Die Grotte der Gerippe
Tempel ragten in den Himmel, Säulen, Pyramiden, überdimensionale Altäre. Die Vision schien sich in die Unendlichkeit hinzuziehen, das Ganze wirkte beängstigend, übermenschlich, wie die Wohnstatt unsichtbarer Riesen, und Zamorra begriff, warum die Huichol ausgerechnet in dieser Umgebung ihre Götter angesiedelt hatten.
Noch einmal sah er sich um – und diesmal entdeckte er auch die Gerippe, die mitten im Tal auf die Erde zurückgesunken waren.
Bleiche Knochen leuchteten.
Eilig strebten die Skelette der steil ansteigenden Felswand auf der anderen Talseite zu – und zwei, drei Knochenmänner schleppten eine Gestalt mit sich, die offenbar das Bewußtsein verloren hatte.
Zamorra erkannte ein knappes, flatterndes Shorty, lange schlanke Beine – und einen Haarschopf, in dem die eingefärbten roten und blonden Strähnen wie winzige Flämmchen leuchteten.
Nicole!
Sie war es, kein Zweifel.
Die Skelette mußten sie entführt haben, genau wie in der Nacht zuvor die junge Huichol, und jetzt schleiften sie sie eilig auf die Felswand zu, die wie eine unbezwingliche Mauer aufragte.
Zamorra hielt den Atem an.
Sein Herz hämmerte. Aus schmalen Augen beobachtete er die phosphoreszierenden Skelette. Jetzt hatten sie die Steilwand erreicht, wandten sich nach rechts – und schienen wenige Sekunden später von der Dunkelheit verschluckt zu werden.
Kein Zweifel, daß ein Höhleneingang sie aufgenommen hatte.
Ein paar von ihnen blieben zurück, verteilten sich zwischen den Felsen und hielten Wache. Deutlich war der grüne Schimmer zu sehen, der sie umgab. Sechs Skelette zählte der Professor, und er versuchte, sich ihre Positionen einzuprägen, bevor er seine Deckung zwischen den Felsennadeln verließ.
Als er wenig später in das Tal hinabstieg, hatte sich sein Gesicht zur Maske verhärtet, und das Amulett auf seiner Brust schien Wärme auszustrahlen wie ein lebendiges Wesen…
***
Irgendwann während des wahnwitzigen Fluges war Nicole in tiefe Bewußtlosigkeit versunken.
Sie wußte nicht, wo sie sich befand, als sie wieder zu sich kam.
Das erste, was sie wahrnahm, war die Kälte von Stein auf ihrer Haut. In dem dünnen Shorty fror sie erbärmlich. Mühsam wälzte sie sich auf die Seite, öffnete die Augen und schloß sie wieder, weil ein seltsamer schwefliger Glanz sie blendete.
Stimmen schlugen an ihr Ohr.
Stimmen in einer fremden Sprache…
Sie erkannte das Idiom der Huichol, ohne die Worte zu verstehen, und für einen Moment durchzuckte sie die verrückte Hoffnung, daß sie vielleicht bei der Gruppe der Pilger gelandet sei.
Nein!
Es waren Frauenstimmen, die sie hörte. Erneut hob sie die Lider, blinzelte heftig, und diesmal erkannte sie die beiden Mädchen, die in ihrer Nähe auf dem Steinboden kauerten.
Die Jüngere konnte nicht älter sein als siebzehn oder achtzehn Jahre. Sie war nackt. Reglos hockte sie da, starrte apathisch ins Leere, und das lange schwarze Haar umgab sie wie ein Mantel. Ihre Leidensgenossin trug nur noch Fetzen am Körper. Auch sie wirkte verängstigt, doch längst nicht so teilnahmslos. Tränenspuren zeichneten ihre Wangen, und Kratzer und blaue Flecken bewiesen, daß sie von ihren Entführern mißhandelt worden war.
Nicole richtete sich auf.
Ihr Kopf schmerzte, Übelkeit wühlte in ihrem Magen, sie spürte jeden einzelnen Knochen – aber das alles erschien ihr im Moment zweitrangig. Ihr Blick irrte umher. Sie erfaßte die nackten Felswände, die kleine, vollkommen kahle Grotte, und wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen stand sie auf und ging schwankend zum Eingang des Lochs hinüber, durch den das seltsame gelbliche Licht in ihr Gefängnis drang.
Nach drei Schritten zuckte sie zurück.
Ein bösartiges Zischen ertönte. Drei, vier grün schillernde Schlangen züngelten empor. Kalt und ausdruckslos starrten die Reptilienaugen – und Nicole hatte das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben.
Das waren keine normalen Schlangen!
Verkümmerte Schwingenpaare wuchsen an den geschmeidigen Leibern. Die Federn leuchteten blutrot. Nicole fielen die Legenden von Quetzalcóatl ein, der gefiederten Schlange, und nach allem, was bereits geschehen war, wehrte sich ihr gesunder Menschenverstand kaum noch gegen den Gedanken, hier verkümmerte Ebenbilder oder Abkömmlinge der alten Azteken-Gottheit vor sich zu haben.
Die junge Frau preßte die Lippen zusammen.
Die Schlangen machten keine Anstalten, sie anzugreifen. Nicole wußte nicht, ob die Tiere giftig waren, sie fürchtete
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