0027 - Die Grotte der Gerippe
sie. Für Sekunden drehte sich alles in ihrem Kopf, verwirrten sich ihre Gedanken, doch keine gnädige Ohnmacht ließ ihr Bewußtsein verlöschen. Immer noch preßte ihr eins der Gerippe die Knochenhand über den Mund.
Harte Fäuste hielten sie gepackt, zerrten sie hoch, schleiften sie quer durch das Zimmer, und ihre verzweifelte, von Entsetzen diktierte Gegenwehr blieb vergeblich.
Sie fühlte sich emporgehoben.
Ein dumpfes Rauschen hing plötzlich in der Luft. Nicoles Haar flatterte. Angstvoll riß sie die Augen auf – und verkrampfte sich in der Erkenntnis, daß sie mit ihren unheimlichen Entführern bereits über der stillen Dorfstraße schwebte.
Rasend schnell flogen die Gerippe dahin.
Wind peitschte Nicoles Gesicht, ihre Augen tränten. Schwindel ergriff sie. Entsetzliche Übelkeit. Immer noch schienen unbarmherzige Stahlklammern um ihre Arme und Beine zu liegen, und sie wurde fortgerissen wie von einem Orkan.
Als sich endlich die knöcherne Hand von ihrem Mund löste, hatte sie keine Kraft mehr, ihr Entsetzen hinauszuschreien…
***
Als Zamorra das Rauschen hörte, kauerte er nach einem mörderischen Aufstieg zwischen den Felsen eines buckelförmigen Berges und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Sein Blick glitt über die endlosen Höhenzüge, die schwarz im silbernen Licht des Mondes lagen. Noch eine Viertelstunde bis Mitternacht! Er mußte dem heiligen Tal der Huichol jetzt ganz nahe sein – aber er hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie er es finden sollte.
Zuerst fiel ihm das seltsame Geräusch nicht auf, weil es sich mit dem Pochen des Blutes in seinen Ohren mischte.
Erst nach einer Weile wurde ihm klar, daß irgend etwas nicht stimmte, daß das dumpfe Brausen und Orgeln nicht von der schwachen Brise herrühren konnte, die seine erhitzte Haut kühlte. Der Gedanke an ein heraufziehendes Unwetter ließ ihn erschrocken den Kopf heben. Der Himmel war immer noch klar, tiefschwarz, gesprenkelt mit glitzernden Sternen. Zamorras Blick wanderte weiter, folgte den Linien der Bergrücken – und da sah er die grünlich leuchtende Wolke, die sich mit schwindelerregendem Tempo näherte.
Die fliegenden Gerippe!
Das grüne Leuchten hüllte sie ein, verbarg ihre Knochengestalten – aber Zamorra hatte die seltsame Lichtwolke schon einmal gesehen, als die Monster mit dem entführten Huichol-Mädchen das Dorf verließen. Hatten sie sich jetzt ein neues Opfer geholt? Zamorra biß die Zähne zusammen, und der Gedanke an Nicole schien sich wie ein glühender Nagel in sein Gehirn zu bohren.
Er duckte sich zusammen, preßte sich tief zwischen die Felsen, um nicht gesehen zu werden. Sein Blick hing am Himmel, wo die unheimlichen Skelette einen phosphoreszierenden Kometenschweif hinter sich herzogen. Fauchend und heulend flogen die Bestien über den Professor hinweg – und noch während er ihnen nachstarrte, wurden sie plötzlich langsamer.
Im ersten Moment glaubte er, daß sie ihn bemerkt hatten, dann fiel ihm ein, daß das Ziel der fliegenden Monster in unmittelbarer Nähe liegen mußte.
Sein Herz hämmerte.
Hatte er doch noch eine Chance?
Würden ihm die Gerippe den Weg ins heilige Tal der Huichol weisen oder…
Jetzt hielten sie an, schwebten auf der Stelle. Die grün schillernde Wolke sank nach unten. Zamorra kniff die Augen zusammen, tastete die schroffen Felsformationen ab, hinter denen die Gerippe verschwanden, und versuchte, sich den Anblick tief ins Gedächtnis einzuprägen.
Zwei schmale, hochragende Nadeln, die sich nach oben hin gegeneinander zu neigen schienen.
Ein wuchtiger Steinblock, der von weitem fast wie ein Kopf aussah.
Scharfe Zacken dazwischen, eine gleichmäßig geschwungene Stelle – das Bild war so charakteristisch wie die Skyline einer Stadt, und Zamorra wußte, daß er es auch aus der Nähe wiedererkennen würde.
Noch eine halbe Stunde Weg etwa, schätzte er.
Als er weiterging, in die nächste Bergfalte hinabstieg, war seine Erschöpfung verflogen. Immer wieder ließ er den Blick über die Landschaft gleiten, orientierte sich an der Felsformation, die er sich eingeprägt hatte, und schließlich stand er dicht vor den beiden hochragenden Steinnadeln, zwischen denen ein schmaler Durchschlupf den Weg ins Tal öffnete.
Vorsichtig glitt er hindurch – und blieb einen Moment lang überwältigt stehen.
Die Landschaft war grandios.
Weißer Kalkstein leuchtete im Mondlicht – Felsen, aus denen die Erosion im Laufe der Jahrhunderte bizarre Gebilde geformt hatte.
Gigantische
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