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003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alphonse Brutsche
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hierher.
    Pierre wandte sich nach links und verlangsamte unwillkürlich den Schritt. Er wusste jetzt nicht mehr genau, warum er eigentlich gekommen war. Er räusperte sich und schlug den Mantelkragen hoch. Diese Kälte! Er war wirklich töricht gewesen. Warum um alles in der Welt war er hergekommen? Wegen dieses schwachsinnigen alten Landstreichers? Das war ja wirklich lächerlich.
    Dann stand er vor Christines Grab.
    »Guten Abend, Christine«, sagte er im Geist zu ihr.
    Aber weiter kam er nicht. Seltsamerweise hatte er seiner Frau heute nichts zu sagen. Er war ja heute Abend auch nicht ihretwegen gekommen.
    Er stand regungslos da, während die Kirchturmuhr halb sieben schlug. Da die Klänge heute nicht vom Wind herbei getragen wurden, hörte man sie kaum. Normalerweise hatte er beim Schlag der halben Stunde das Friedhofstor noch nicht erreicht. Also war er heute besonders schnell gegangen.
    »Sie sind etwas früher gekommen als gestern, lieber Merlin«, sagte dicht hinter ihm eine heisere, wohlbekannte Stimme. »Ich fühle mich sehr geehrt.«
    Pierre war zusammengefahren. Die Hände in seinen Taschen zitterten leicht. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sich dazu überwand, sich nach dem alten Bornimus umzudrehen. Als er ihm dann gegenüberstand, wusste er nicht, was er sagen sollte. Pierre war von Natur aus nicht gesprächig, und er hatte noch nie mit irgendjemandem Streit angefangen. Er wusste deshalb nicht, wie er beginnen sollte. Und was sollte man zu einem Fremden sagen, dessen Gesicht man in der Dunkelheit nicht einmal erkennen konnte?
    »Ich glaube, die Stunde ist jetzt schon gekommen«, sagte der alte Narr. »Kommen Sie, es ist nicht weit.«
    Er entfernte sich ein kleines Stück. Als er bemerkte, dass Pierre sich nicht rührte, winkte er ihm energisch zu.
    »Nun kommen Sie schon«, sagte er. »Nur ein paar Schritte. Deshalb sind Sie doch da, oder etwa nicht?«
    Pierre schluckte nervös. Fast gegen seinen Willen setzten sich seine Beine in Bewegung. Während er dem Alten ins Dunkel folgte, hatte er auch schon für sich eine Ausrede bereit. Es war besser, sich von Christine zu entfernen, damit sie nicht durch das gestört wurde, was jetzt geschah – was es auch sein mochte.
    Eine ausgestreckte Hand hielt ihn an. Sie waren in einen schmalen Seitenweg eingebogen. Bornimus hatte sich einem Grab zugewandt. Trotz der Dunkelheit bemerkte Pierre, dass es sich um eine fast luxuriöse Grabstätte handelte. Vasen und Schalen aus Marmor waren mit Blumen gefüllt. In der Nähe des alten Mannes spürte Pierre wieder den Geruch von feuchter Erde. Er wich zurück, und die Erinnerung an den furchtbaren Alptraum erwachte in ihm.
    »Hier ist die letzte Ruhestätte von Dominique Flandrin«, sagte der alte Mann. »Er wird sie verlassen. Arthur Flandrin wird bald den Besucher empfangen können, den er so sehnsüchtig erwartet. Ist es nicht rührend, dass zwei Brüder so aneinander hängen? Sie sind beide unverheiratet.«
    Pierre Merlin zuckte nervös die Achseln.
    »Ich glaube an so etwas nicht«, erklärte er.
    »Sie brauchen auch nicht zu glauben, was Sie nicht sehen«, erwiderte Bornimus freundlich. »Sie werden sich selbst davon überzeugen können.«
    Im Dunkel sah Pierre etwas aufblitzen. Waren es die Augen des Alten? Oder seine Kette? Unfähig sich zu rühren oder etwas zu sagen, stand Pierre da. Worauf er wartete, wusste er selbst nicht.
    »Wenn man es zum ersten Mal erlebt«, sagte Bornimus, »nimmt es einen ziemlich mit. Für den Fall, dass Sie es vorziehen, plötzlich aufzubrechen, will ich Ihnen lieber meine Anschrift geben, damit Sie wissen, wo Sie mich erreichen können. Hier, bitte.«
    Der Vagabund schob Pierre eine Karte in die Tasche. Merlin protestierte nicht. Er spürte sie an seinen Fingern, dann vergaß er sie.
    Sie warteten. Pierre stand regungslos da, als sei er versteinert. Auf dem Friedhof herrschte ungewöhnliche Stille. Kein Lüftchen ging, kein Straßenlärm drang herein. Pierre blickte auf. Der Himmel hatte eine rötlich graue Farbe. Er sah fast wie verwesendes Fleisch aus. Unten am Boden war es jedoch völlig finster. Pierre konnte nun auch den Grabstein der Flandrins nicht mehr erkennen, dessen Umrisse soeben noch sichtbar gewesen waren.
    »Jetzt!« sagte Bormius plötzlich. »Ich glaube, jetzt ist es soweit. Hören Sie!«
    Pierre erschrak. Er spürte, dass er blass wurde, und sein Herz begann heftig zu klopfen. Er lauschte angespannt, aber kein Geräusch war zu vernehmen.
    »Ich höre nichts«,

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