003 - Der Totentanz
mehr, was er denken sollte. Als er ins Bett ging, lag er eng zusammengekauert unter der Decke, und als er das Licht löschte, stieß er einen Seufzer tiefster Verzweiflung aus.
Glücklicherweise blieb er in dieser Nacht von Alpträumen verschont.
Zuvor hatte er aufmerksam, die Zeitung gelesen und nach irgendeiner Meldung gesucht, die mit dem Ereignis auf dem Friedhof Zusammenhängen konnte. Aber er hatte nichts gefunden. Vielleicht war es auch noch zu früh dafür.
Aber heute finde ich vielleicht etwas, dachte er, als er am nächsten Morgen ins Büro ging. Unterwegs kaufte er eine Zeitung. Während er weiterging, überflog er das Blatt.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Es war nur eine kurze Notiz, die sich auf der letzten Seite unten befand, zwischen einem Bericht über einen Brand und einer Waschmittelreklame.
GEÖFFNETES GRAB AUF DEM FRIEDHOF SAINTCHARLES Olivier Marcheval, der Wächter des Friedhofs Saint-Charles, machte gestern, Donnerstag, auf seinem üblichen Inspektionsgang vor der Öffnung des Friedhofs eine merkwürdige Entdeckung.
In Block II war ein Grab geöffnet. Die marmorne Deckplatte lag neben der Gruft, und mehrere Marmorvasen waren umgestürzt. Der Wächter stellte fest, dass sich ein Loch im Boden befand. Jemand schien dort gegraben zu haben.
Der Besitzer der Grabstätte, Herr Arthur Flandrin, erklärte, dass Diebstahl nicht das Motiv für die Tat sein dürfte, da keines der Familienmitglieder mit einem wertvollen Schmuckstück beigesetzt worden war. Die Polizei wurde deshalb nicht verständigt, sondern man veranlasste nur, dass das Grab wieder in Ordnung gebracht wurde.
Als man den Wächter fragte, was er von dem seltsamen Vorfall hielte, erklärte er, dass es genügend Verrückte gerade auf Friedhöfen gäbe. Im Übrigen sei es natürlich auch möglich, dass einer der Toten ein bisschen Spazierengehen wollte.
Wie man sieht, kann sich auch ein Friedhofswärter seinen Humor erhalten.
Pierre Merlin faltete langsam die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche seines Regenmantels. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, das jedoch keiner inneren Heiterkeit entsprang. Es war vielmehr das ergebene Lächeln des Besiegten. Die Zeilen, die er soeben gelesen hatte, machten seine Niederlage vollkommen. Es gab keinen Zweifel mehr. Das war der Beweis. Das Reich der Schatten, das Pierre mit aller Kraft seit drei Tagen aus seinem Bewusstsein zu verdrängen versucht hatte, war hart mit der Realität zusammengestoßen. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, sich noch länger zu wehren.
Pierre setzte seinen Weg wie ein Nachtwandler fort. Einige Passanten warfen verwunderte Blicke auf ihn. Es hatte angefangen zu regnen. Er war so in Gedanken versunken, dass er an seinem Büro vorbeiging und umkehren musste.
Mittags wurde das Wetter besser. Die Wolkendecke riss auf. Ein breites Band wolkenlosen Himmels erstreckte sich von Osten nach Westen, und einzelne Sonnenstrahlen ließen die nassen Dächer der Stadt aufleuchten.
Als er zum Kleiderhaken ging, sagte Pierre zu seinen Kollegen, mit denen er noch kein Wort gewechselt hatte, dass er etwas später vom Essen zurückkommen werde. Dann suchte er das Büro seines Chefs Bontemps auf, um sich die Erlaubnis zu holen, mittags eine oder zwei Stunden länger ausbleiben zu können. Er erhielt sie sofort, obwohl der Architekt sich über diese Bitte wunderte. Pierre Merlin hatte noch nie solche Sonderwünsche geäußert.
»Merlin sieht aber schlecht aus«, sagte Bontemps, als er nach Pierres Aufbruch im Büro seiner Kollegen erschien.
Canauff nickte bekümmert. »Der Tod seiner Frau … Von Zeit zu Zeit hat er anscheinend starke Depressionen.«
Pierre ging in sein trübseliges Restaurant. Nachdem er das Essen hinuntergewürgt hatte, eilte er zum Friedhof. Das hatte er sich noch nie erlaubt, während der Bürozeit auf den Friedhof zu gehen. Aber heute wollte er ja auch nicht Christine sprechen, sondern … ihn.
Es war Freitag. Die Straße, an der der Friedhof lag, war bunt von den Blumen vor den Geschäften. Es begegneten ihm viele Menschen mit ernsten Mienen. Durch die Sonnenstrahlen, die auf die vielen bunten Blüten fielen, wirkte die Straße ausgesprochen fröhlich.
Pierre schritt durch das Portal und ging die Allee mit den Eiben entlang, über der sich jetzt ein wolkenloser Himmel wölbte. Aus Feigheit oder vielleicht auch aus Taktgefühl machte er einen Umweg, um nicht am Grab seiner Frau vorbeizukommen, und erreichte gleich darauf die
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