003 - Der Totentanz
letzte Ruhestätte der Flandrins.
Dort waren mehrere Leute versammelt. Es war keine Menschenmenge, aber einige alte Frauen und Männer hatten sich doch eingefunden. Das beschädigte Grab gab ihnen eine willkommene Gelegenheit, mit jemanden ein paar Worte zu wechseln und sich gemeinsam darüber zu empören. Pierre war in einiger Entfernung stehen geblieben, so als besuchte er eine andere Grabstelle. Am Grab der Flandrins war nicht viel zu sehen. Ein Maurer kniete vor der Marmorplatte, die wieder an ihren Platz gelegt worden war. Anscheinend befestigte er sie mit Zement an ihrer Unterlage.
Die Handgriffe des Arbeiters ließen in Pierre wieder die Erinnerung an das Grauen erwachen, das er in der stillen, dunklen Nacht empfunden hatte, als sich die Platte verschob – bewegt von einer Kraft, deren Name oder Ursprung er nicht kannte und nach der er auch nicht zu fragen wagte.
»Was es nicht alles gibt, nicht wahr? Und noch dazu auf einem Friedhof.« Pierre fuhr zusammen. Im ersten Moment glaubte er, dass es sich um die Stimme des alten Bornimus handelte. Es war aber Marcheval, der Wächter, der ihn erkannt hatte und leise näher gekommen war.
»Ja«, stieß Pierre hervor. »Ich bin gerade von meinem Grab gekommen, und da habe ich gesehen …«
»Die Platte war verschoben«, sagte der Wächter mit freundlichem Lächeln. »Haben Sie heute früh die Zeitung gelesen?«
Der alte Mann sah Pierre forschend durch seine dicken Brillengläser an. Er ging einige Schritte auf das Grab der Flandrins zu.
»Ich … ja … allerdings«, sagte Merlin verlegen. »Nachdem ich bei meiner Frau war, habe ich nur mal einen Blick darauf werfen wollen.«
»Das ist doch ganz verständlich. Sonst passiert ja nicht viel auf einem Friedhof.«
Sie waren vor dem Grab stehen geblieben. Mehrere Köpfe wandten sich ihnen zu, denn der alte Marcheval hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Stimme zu dämpfen.
»Na, ist ja schon alles wieder in Ordnung«, sagte der Wächter.
Pierre nickte. Dabei vermied er es, das Grab anzusehen. Er hatte Angst, dass ihn die Furcht wieder überfallen würde. Vielleicht würde er dann anfangen zu zittern oder sogar ohnmächtig werden.
»Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt gehen«, sagte er mit schwachem Lächeln.
»Ich begleite Sie«, erwiderte der Wächter leutselig.
Sie gingen gemeinsam die Allee entlang. Pierre war ärgerlich, weil er lieber allein geblieben wäre. Aber seine angeborene Liebenswürdigkeit zwang ihn dazu, eine freundliche Miene aufzusetzen und die Unterhaltung fortzuführen.
»Passiert das öfter, dass jemand ein Grab beschädigt?« fragte er seinen Begleiter.
»Nicht häufig, aber zwei oder dreimal im Jahr gibt es schon solche Grabschändungen.«
»Aber …« sagte Pierre mit unsicherer Stimme, »Wer macht denn so etwas? Wie erklären Sie sich das?«
»Du liebe Zeit, es gibt doch genug Verrückte auf der Welt«, erklärte Marcheval mit ausladender Geste. »Manche machen eben auch Gräber auf. Das da drüben zum Beispiel, das dunkle da … Also vor zwei Jahren …«
Aber Pierre hörte nicht zu. Ob Marcheval von der Existenz des alten Bornimus wusste? Jetzt war eine günstige Gelegenheit, das herauszufinden.
»Sagen Sie«, begann er vorsichtig, »als ich kürzlich hier war, um meine Frau zu besuchen, habe ich eine Art Vagabund gesehen, der sich hier aufhielt. Er war schon älter, hatte langes Haar und trug eine Kette um den Hals. Könnte es nicht sein, dass er …«
»So? Eine Kette?« Der Wächter runzelte die Stirn. »Lange Haare? Nein, ich wüsste nicht … Aber ich kann ja auch nicht überall gleichzeitig sein. Ein einziger Wächter für dieses riesige Gelände ist ja auch viel zu wenig.«
»Ich frage nur deshalb«, fuhr Pierre fort, »weil ich mich an dem Tag etwas … etwas verspätet hatte, und als ich ans Tor kam, war es schon verschlossen. Als dieser Mann das sah, hat er mich durch eine Pforte in der Mauer hinausgelassen. Deshalb habe ich mich gefragt, ob es nicht vielleicht ein Angestellter der Friedhofsverwaltung war.«
Der alte Marcheval war stehen geblieben und sah Pierre verwundert an.
»Ein Angestellter der Friedhofsverwaltung? Aber es gibt doch nur einen, und der bin ich. Und durch was für eine Pforte? Außer mir hat niemand die Schlüssel zum Tor.«
»Es war nicht das große Portal, sondern eine kleine hölzerne Tür der Umfassungsmauer, nicht weit vom Haupteingang.«
Der Wächter schüttelte den Kopf und strich sich den Schnurrbart.
»Zeigen Sie mir die doch
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