003 - Der Totentanz
ruhig jetzt schon alles«, erwiderte Pierre ungeduldig.
»Ihr Vertrauen ehrt mich.« Bornimus verbeugte sich mit spöttischem Lächeln.
Er ließ die Scheine in der Tasche seiner Kordhose verschwinden. Die beiden Männer kehrten in den anderen Raum zurück. Bornimus nahm seinen alten schmutzigen Mantel vom Haken und bedeutete Pierre vorauszugehen. Dieser drückte sich den Hut fest auf den Kopf und schlug den Mantelkragen hoch.
»Fürchten Sie sich nicht vor den Elementen«, sagte hinter ihm der Alte. »Es regnet nicht mehr.«
Pierre schob mit heftiger Bewegung den Riegel zurück. Gleich darauf standen sie in der finsteren Gasse. Der Wind pfiff über die Dächer, aber Bornimus hatte recht. Es regnete nicht mehr. Die Feuchtigkeit schien in der kalten Luft zu stehen, und Pierre hatte das Gefühl, als ob eisige Finger sich auf sein Gesicht legten.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Er ging ein paar Schritte, dann drehte er sich um. Bornimus folgte ihm auf den Fersen. Hinter ihnen leuchtete rot das Guckloch wie ein Auge in der Finsternis. Pierre blickte zum Himmel. Dunkle Wolken jagten dahin. Im dritten Stockwerk eines Hauses war ein Fenster erleuchtet, hinter dem eine regungslose dunkle Gestalt stand und zu ihnen hinuntersah. Verlegen senkte Pierre den Kopf. Bornimus gab ihm von hinten einen sanften Stoß, und gleich darauf traten sie aus der schmalen Gasse auf die breitere Querstraße.
Es tat Pierre gut, in die gewohnte Umgebung der lärmenden Stadt zurückzukehren, wo die Autos vorbeirollten und frierende Passanten sich beeilten, ihr Ziel zu erreichen. Dicht nebeneinander schritten sie rasch aus.
Bornimus versuchte ab und zu, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Doch das beharrliche Schweigen seines Begleiters brachte ihn bald von diesen Bemühungen ab.
Sie brauchten etwas länger als eine halbe Stunde, bis sie den Friedhof erreicht hatten. Als sie das große Tor durchschritten, schlug die Kirchturmuhr gerade halb sieben. Überrascht stellte Pierre fest, dass er wieder zur üblichen Zeit eingetroffen war.
Als sie am erleuchteten Pförtnerhaus vorbeigekommen waren und in die Hauptallee einbogen, ging Pierre unwillkürlich langsamer. Das Ungeheuerliche der Situation und seine Unvernunft erschienen ihm plötzlich in erschreckend hellem Licht. Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er war, ob er wollte oder nicht, von einer unsinnigen Hoffnung ergriffen worden.
Bornimus berührte ihn leicht am Arm.
»Kommen Sie doch«, sagte er leise.
Sie verschwanden im Dunkel und standen gleich darauf vor dem Familiengrab. Bornimus kniete nieder. Pierre zitterte. Der Alte verrichtete jedoch kein Gebet, sondern kratzte mit den Händen den Kies beiseite, um an die Erde zu kommen. Dann bohrte er drei kleine Löcher, holte den Lappen aus der Tasche und breitete ihn auf dem Boden aus. Er vergrub die drei geheimnisvollen Körner und strich die Erde über ihnen mit der Hand glatt. Als er sich wieder erhoben hatte, blieb er heftig atmend stehen.
»Das Soma enthält das Prinzip des ewigen Lebens«, sagte er leise. »Dort in der Erde werden seine Kräfte zu dem toten Leib ausstrahlen, der dem Menschen gehört, den Sie ins Leben zurückrufen möchten. Langsam wird der Körper der Verstorbenen die Lebenskraft in sich aufnehmen. Die Zellen werden wieder zu arbeiten beginnen, werden sich neu bilden, werden leben. Das Fleisch, die Muskeln, die Organe werden neu entstehen und ihre unterbrochenen Funktionen wieder aufnehmen. Das Gehirn kommt zuletzt an die Reihe, aber auch seine Zellen werden von neuem aktiv werden. Dann wird es Christine eilig haben, ihr kaltes Gefängnis zu verlassen. Ihr Erinnerungsvermögen wird völlig intakt sein, auch ihre Persönlichkeit. Solange auch nur noch eine einzige Zelle übrig ist, kann man das ganze Wesen wiederherstellen. Dann ist es, als ob der Tote nur geschlafen habe, ein ganzes Jahr lang. Sie wird auf erstehen. Sie wird wieder bei Ihnen sein.«
»Seien Sie still!« sagte Pierre mit rauher Stimme.
»Im Prinzip genügt schon ein einziges Soma-Korn, aber in einem Jahr schreitet die Verwesung doch schon ziemlich voran. Deshalb habe ich drei Körner verwendet. Das ist sicherer.«
»Hören Sie doch auf!« fuhr ihn Pierre an.
Seine Stimme klang laut durch das stille Dunkel des Friedhofs. Sie schien bis zum wolkigen Himmel hinauf zu dringen. Pierre schloss die Augen. Ein Zittern durchlief seinen Körper von Kopf bis Fuß. Er glaubte die Erregung, die ihn erfasst hatte, nicht mehr ertragen zu
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