003 - Der Totentanz
zum erleuchteten Fenster seines Schlafzimmers hinauf. Mehrere Minuten verweilte er so.
»Christine«, flüsterte er.
Dieser Name war jetzt für ihn mit einem leichten Grauen verbunden, sosehr er ihn auch mit Liebe und Sehnsucht erfüllte. Er setzte sich wieder in Bewegung, zuerst langsam, dann immer schneller, den Blick wie hypnotisiert auf das Fenster gerichtet. Er hoffte, einen Schatten hinter dem hellen Viereck zu erblicken, und gleichzeitig fürchtete er sich davor. Doch es war nichts zu sehen.
Er ging durch den Hausflur, lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und blieb vor der Wohnungstür stehen.
»Es ist doch unmöglich«, sagte er leise.
Dann schloss er die Tür auf und trat ein. Seine Hände zitterten. Die Diele war dunkel. Kein Laut war zu hören außer dem Heulen des Sturmes, der über das Haus hinwegbrauste. Er zwang sich weiterzugehen, blieb aber sofort wieder stehen. Von der Schlafzimmertür trennten ihn nur wenige Meter. Sie war geschlossen. Unter ihr drang ein schmaler Lichtstreifen hervor.
»Christine!« rief er zaghaft.
Sein Ruf war kaum zu hören. Er wiederholte ihn lauter. Die Tür blieb geschlossen, und kein Ton drang aus dem Schlafzimmer.
Er trat zum Lichtschalter der Diele und schaltete die Lampe ein. Die Helligkeit vertrieb die Gespenster in seinem Hirn. Pierre ging zur Wohnungstür und schlug sie laut zu. Dann wartete er noch einige Sekunden, ehe er mit raschen, entschlossenen Schritten zum Schlafzimmer ging und die Tür aufriss.
Sein angstvoller Blick wanderte von einer Wand zur anderen, dann wusste er, dass seine Erregung unnötig gewesen war. Das Zimmer war leer.
Einen Augenblick lang blieb er noch regungslos auf der Schwelle stehen und sah die brennende Nachttischlampe an. Nach der vorangegangenen Erregung fühlte er sich jetzt sehr schwach. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte und ob er nun eigentlich erleichtert oder enttäuscht war.
Er ging durch die ganze Wohnung, machte überall Licht und sah sich um, aber nichts sprach dafür, dass er … einen Besucher gehabt hatte. Alles war so wie immer: Kein Teppich war verschoben, kein Stuhl stand anders, nirgends lag etwas herum.
Schließlich ließ er sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Er war in Schweiß gebadet. Erst nach ein paar Minuten erhob er sich wieder und zog den Mantel und die Jacke aus.
Er war völlig durcheinander. Natürlich war niemand in der Wohnung. Aber warum brannte dann das Licht? Es war möglich, dass er es am Morgen auszumachen vergessen hatte. Er war ja schon früh weggegangen und den ganzen Tag ausgeblieben.
Vielleicht hatten die anderen Hausbewohner etwas gesehen oder gehört? Aber was? Wieder wagte er nicht, das Undenkbare zu denken. Ob er sie fragen sollte? Es war allerdings schon spät. Halb ein Uhr nachts.
Niemals wäre Pierre Merlin früher auf die Idee gekommen, seine Nachbarn mitten in der Nacht zu stören. Doch jetzt hatte sich sein Leben von Grund auf verändert, und Dinge, die ihm früher unmöglich erschienen waren, waren es nun nicht mehr für ihn.
Rasch entschlossen erhob er sich, und während er in den Korridor hinausging, legte er sich alle möglichen Ausreden zurecht.
Die Martins schliefen sicher noch nicht. Sie waren jung und gingen gewiss erst spät zu Bett. Der Ehemann kam immer schon vor Pierre nach Hause, so gegen sieben, aber seine Frau arbeitete im Zentrum in einem Lokal und traf erst gegen halb zehn oder elf Uhr abends ein.
Pierre ging die Treppe hinunter und blieb im Erdgeschoss vor der Wohnung der Martins stehen. Er zögerte einen Moment, dann legte er das Ohr an die Tür, zog den Kopf aber gleich wieder zurück, weil diese Geste ihm doch zu indiskret vorkam. In der Wohnung war alles still. Er kämpfte noch kurz gegen seine Bedenken an, dann drückte er auf die Klingel.
Das kurze Läuten blieb ohne Erfolg. Aber er musste unbedingt Bescheid wissen. Er klingelte ein zweites Mal, etwas länger, dann zum dritten Mal. Drinnen hörte er nach einer Weile halblaute Stimmen. Dann näherten sich Schritte.
»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme unfreundlich.
»Ich bin es, Merlin«, erwiderte Pierre und ärgerte sich jetzt über sich selbst.
Endlich wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Als Frau Martin ihn sah, lächelte sie schwach und machte die Tür weiter auf. Sie war eine hübsche junge Frau mit einer niedlichen Stupsnase.
»Ach, Sie sind es, Herr Merlin«, sagte sie verwundert.
Mit der Hand hielt sie sich den Ausschnitt
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