003 - Der Totentanz
nichts mit der nächtlichen Novembertemperatur zu tun.
Er hielt einen Ring mit einem Amethyst in der Hand. Das Gold war trüb geworden, so als habe es längere Zeit in feuchter Erde gelegen. Pierre kannte das Schmuckstück genau. Es war der Ring, den er Christine zur Verlobung geschenkt hatte.
Sie hatte ihn immer getragen.
Auch noch im Grab.
Pierre fand keinen Schlaf mehr. Bis zum Morgengrauen saß er im Bett und drehte den Ring zwischen seinen kalten Fingern. Manchmal überlief ihn ein Schauder.
Er bemühte sich, an nichts zu denken, versuchte, die Gedanken zu vertreiben, die ihm durch den Kopf jagten.
Als er morgens das Haus verließ, wusste er selbst nicht, wie er imstande gewesen war, sich zu waschen, zu rasieren und anzuziehen.
In den langen Stunden bis zum Morgengrauen hatte er sich mehrmals gefragt, ob er nicht vielleicht verrückt geworden war. Vielleicht hatte er den Verstand verloren und litt unter furchtbaren Wahnvorstellungen, die er irrtümlich für die Wirklichkeit hielt.
Er kam etwas zu spät ins Büro. Seine Kollegen waren schon anwesend. Drei Stimmen begrüßten ihn mit »Guten Morgen, Pierre.«
Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Mit stumpfem Blick betrachtete er die Grundrisse, die auf ihn warteten. In seinem Hirn herrschte vollkommene Leere.
»Pierre …«
Die Frauenstimme ließ ihn zusammenfahren. Er hob den Blick und sah das mitfühlende Gesicht von Brigitte Dubois vor sich. Sie hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. Pierre sah sie fragend an, aber er brachte kein Wort über die Lippen.
»Pierre«, sagte die junge Frau, »ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr wir alle mit Ihnen fühlen. Und vor allem heute … .«
Jetzt vermochte er wieder zu sprechen.
»Und vor allem heute?« wiederholte er verständnislos.
»Ja, heute ist doch der 17. November. Heute vor einem Jahr ist Ihre Frau gestorben, und wir …«
»Heute vor einem Jahr!« sagte Pierre. »Mein Gott, das habe ich ja ganz vergessen.«
Er sah Brigitte an und lächelte matt. Dann stand er auf, murmelte eine Entschuldigung, nahm Mantel und Hut und eilte hinaus.
Brigitte Dubois sah ihm nach. Dann wandte sie ihr bedrücktes Gesicht Canauff und Dutour zu.
»Na, das war vielleicht doch keine so gute Idee«, bemerkte Canauff.
»Der arme Kerl«, sagte Dutour leise.
»Haben Sie gehört, was er gesagt hat?« fragte Brigitte. »Er hatte vergessen, dass heute der Todestag seiner Frau ist.«
Das schien unglaublich. Aber ihr Kollege hatte sich in letzter Zeit seltsam benommen, dass sie selbst das nicht mehr verwunderte. Er würde schon wieder zu sich kommen.
Brigitte Canauff und Dutour wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Bald hatten sie Pierre Merlin vergessen.
Sie konnten ja nicht wissen, dass sie ihn nie Wiedersehen würden.
Mit langen, wiegenden Schritten ging Pierre vom Büro zum Friedhof. Das Wetter, das am Tag zuvor so angenehm gewesen war, hatte sich wieder verschlechtert. Ein heftiger Wind trieb dicke graue Wolken vor sich her.
Immer wieder ging Pierre ein Gedanke durch den Kopf:
»Du hast Christines Todestag vergessen. Du hast Christines Todestag vergessen!«
Diese Stimme in seinem Inneren übertönte alles andere, beschwichtigte sein schlechtes Gewissen, weil er einfach aus dem Büro weggelaufen war, und verwischte auch die Erinnerung an die Schrecken der vergangenen Nacht. Er hatte nur den einen Wunsch: so schnell wie möglich zum Friedhof zu gelangen, Christines Grab mit Blumen zu schmücken und stumme Zwiesprache mit ihr zu halten.
Als er die Straße, an der der Friedhof lag, erreichte, suchte er eines der zahlreichen Blumengeschäfte auf. Er kaufte einen großen Nelkenstrauß, bezahlte und eilte auf den Friedhof.
Mit gesenktem Kopf schritt er dahin und lauschte der vorwurfsvollen Stimme in seinem Inneren. Er hatte sich dem Grab schon bis auf wenige Meter genähert, als er aufsah.
Die Vase und der Krug standen auf dem Kiesweg. Der Kies und die Erde waren aufgewühlt, und am Rand neben der Marmorplatte, die das Grab bedeckte, gähnte ein tiefes Loch, aus dem deutlicher Verwesungsgeruch empor drang.
Pierre wurde schwindlig. Die Grabsteine, die ihn auf allen Seiten umgaben, schienen sich um ihn zu drehen. Der Blumenstrauß entfiel seinen Fingern. Er schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
»Hallo! Ja, Sie!« rief plötzlich die Stimme des Friedhofswächters. »Sie suche ich gerade.«
Pierre erwachte erst aus seiner Benommenheit, als der alte Mann
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