003 - Die schwarze Rose
herausfordernd.
„In der Theorie-ja. In der Praxis, die sie anwenden, nicht."
Dass John sich auf diesen Standpunkt stellte, überraschte Chloe nicht. Sein Leben lang hatte er gegen Konventionen und Moralbegriffe rebelliert.
Nachdenklich schaute Sir Percy ihn an. „Du erinnerst mich an Don Giovanni, Sexton.
Auch du lachst der Autorität ins Gesicht und verhöhnst die Sitten der Gesellschaft."
Mit schmalen Augen spähte er durch sein Lorgnon. „Sicher wärst du ein interessantes Studienobjekt."
„Insbesondere, weil er keine echten Überzeugungen vertritt", ergänzte Chloe provozierend.
„Immerhin arbeite ich daran, Chloe-Kätzchen", erklärte John.
Die Stirn leicht gerunzelt, dachte sie über seine erstaunliche Behauptung nach.
„Wie geistreich!" kicherte Percy. „Seine Überzeugung besteht darin, keine Überzeugung zu verfechten."
„Was soll ich nur mit dir machen, John?" klagte Maurice und drohte seinem Neffen mit dem Finger.
Beinahe war Chloe versucht, diesem Beispiel zu folgen.
Ein Drosselschwarm flog von der Lichtung empor.
Fasziniert von diesem Anblick, bemühte sich Chloe, diese Szene auf ihrem Skizzenblock festzuhalten.
Vor einigen Stunden war sie auf ihrer Stute Nettie in den Wald geritten, auf der Suche nach einem geeigneten Motiv, und bald hatte sie diese abgeschiedene Lichtung entdeckt. Percys Enthüllungen am vergangenen Abend beunruhig-ten sie. Darüber musste sie nachdenken. Und während sie zeichnete, konnte sie ihre Gedanken stets am besten ordnen.
Nun saß sie schon eine ganze Weile im Gras. Eigentlich wollte sie gar nicht an John und Lady Hinchey denken. Da er ihr vor der Vereinbarung nichts versprochen hatte, durfte sie ihm nicht vorwerfen, er sei ihr untreu gewesen. Trotzdem fühlte sie sich todunglücklich, und sie wusste, wie viel sie wagte. Ihr ganzes Vertrauen wollte sie ihm schenken -einem berühmten Wüstling, der gar keinen Hehl aus seinem Lebenswandel machte. Was sollte sie tun, wenn er . . .
Das Pferd stupste sie an die Schulter und unterbrach ihre trüben Gedanken.
„Nicht jetzt, Nettie, ich bin beschäftigt", murmelte sie.
Und dann jagte eine tiefe Stimme einen Schauer über ihren Rücken. „Nettie ist schon vor Stunden in den Stall zurückgetrottet."
Verwirrt wandte sie sich zum Gegenstand ihrer Überlegungen, der selbstzufrieden auf seinem Hengst saß. „Du hast mich erschreckt!"
„So?" Nach Chloes Ansicht schaute John ein bisschen zu unschuldig drein.
„Was machst du hier?" fragte sie misstrauisch.
„Ich zähle die Blätter an den Zweigen", seufzte er. „Natürlich suche ich dich. Oder glaubst du, man würde sich nicht sorgen, wenn dein Pferd ohne dich zurückkommt?"
Man? Plötzlich fühlte sie sich viel besser. Damit meinte er sich selber, doch das würde er niemals zugeben.
„Sei nicht albern, John. Nettie läuft oft allein nach Hause, weil sie's keine Stunde lang ohne Futter aushält. Jedes Mal nutzt sie die erstbeste Gelegenheit, um mir zu entwischen."
Dem konnte er nicht widersprechen. Die leiseste Ahnung leiblicher Genüsse versetzte die pflichtvergessene Stute in wilden Galopp, obwohl sie sich ansonsten wie eine Schnecke bewegte.
„Hm", erwiderte er unverbindlich.
Chloe beugte sich wieder über ihren Skizzenblock und hoffte, John würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sich entfernen. Das tat er nicht. Sie hörte ihn absteigen, dann streckte er sich an ihrer Seite im Gras aus. Während sie angelegentlich zeichnete, herrschte minutenlanges Schweigen.
Schließlich fragte er: „Warum bist du hierher geritten?"
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Auf einen Ellbogen gestützt, schaute er sie prüfend an. Was sollte sie antworten?
Unsicher legte sie den Skizzenblock beiseite. Eine sanfte Brise hob eine ihrer Locken hoch, die sich aus dem Chignon gelöst hatte, und streifte Johns Wange.
„Hier ist es so schön", erklärte sie.
Aber er achtete nicht auf die Umgebung. Stattdessen wickelte er die rote Haarsträhne um seinen Finger, die sich weich und seidig anfühlte. „Ja, wunderschön."
Geflissentlich starrte sie in den Wald. „Bald wird das alles dir gehören, John."
Nach einer langen Pause erwiderte er: „Tatsächlich?"
Sie weigerte sich immer noch, ihn anzuschauen. „Trotzdem erwarte ich, dass du mich zu Rate ziehst, bevor du irgendwelche Entscheidungen triffst."
„Chloe."
Widerstrebend wandte sie sich zu ihm und glaubte, einen seltsamen Schmerz in seinen Augen zu lesen. Doch der Ausdruck verschwand so schnell,
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