0039 - Turm der Verlorenen
die nach einem unfreundlichen Regentag wieder am Himmel steht.
Sie war schlank, etwa zwei Köpfe kleiner als Zamorra, und sie hatte schwarze Haare. In ihren dunklen Augen glühte ein Feuer, das einem Mann die leidenschaftlichsten Versprechen machen konnte. Zamorra konnte sich der Ausstrahlung dieser jungen Frau nicht entziehen. Wie verzaubert blickte er sie an und reagierte nicht auf das, was der Wirt noch weiter zu ihm sagte.
Der Professor hatte nur Augen für das Mädchen da vor ihm.
»Das ist meine Tochter Zora«, sagte der Wirt soeben. Zamorra bekam es nur am Rande mit. »Sie wird dir dein Zimmer zeigen. Du kannst ruhig Vertrauen zu ihr haben. Sie ist schließlich meine Tochter, und ich bin ein ehrenwerter Mann.«
Das Mädchen lächelte Zamorra zu, wandte sich um und bedeutete ihm, er möge folgen. Zamorra setzte sich in Bewegung wie ein treuer Hund, der seinem Herrn folgt.
Sie stiegen eine Treppe empor und gelangten in den ersten Stock.
Es war, wie der Professor schon vorher vermutet hatte – hier lagen die Gästezimmer des Wirtshauses. Zora, die Tochter des geheimnisvollen Wirtes blieb vor einer Tür stehen, holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Sie hielt einladend die Tür auf und ließ Zamorra in das Zimmer vorgehen.
Die Einrichtung war einfach, aber sauber. Zamorra hatte sogar den Eindruck, als würden in dem Raum nur Antiquitäten stehen, etwas, das ihm bereits unten im Gastraum aufgefallen war. Auch die Menschen machten den Eindruck, als stammten sie nicht aus dieser Zeit.
Zamorra wollte dem Mädchen in dieser Richtung eine Frage stellen, da legte sie beschwörend den Finger auf den Mund und machte ihm klar, er solle schweigen.
Zamorra befolgte die Aufforderung und wartete auf einen günstigen Augenblick, seine Frage anzubringen, aber er wartete vergebens. Zora schaute sich noch einmal kurz in dem Zimmer um, ob dem neuen Gast auch nichts fehlte, dann machte sie einen kleinen Knicks und verschwand so lautlos wie sie unten auf Geheiß ihres Vaters erschienen war.
Zamorra wollte ihr noch etwas nachrufen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Seine Glieder wurden auf einmal schwer wie Blei, und er musste sich an der Tischkante abstützen, sonst wäre er umgesunken.
Der Tag hatte ihn doch mehr geschafft, als er angenommen hatte.
Dass diese Müdigkeit Mordius’ Werk war, konnte er beim besten Willen nicht ahnen.
Zamorra schaffte es gerade noch, sich auszuziehen, da sank er schon ins Bett. Wohlig streckte er sich und genoss die saubere Kühle der blütenweißen Laken.
Er wollte schon einschlafen, da identifizierte er den Geruch, den das Leinen der Bettwäsche verströmte.
Es roch irgendwie muffig, abgestanden, nach Verwesung und Alter, das kaum in Jahren auszudrücken war…
***
Der Professor konnte auf keinen Fall länger als zwei Stunden geschlafen haben, da wurde er aus seinen Träumen gerissen. Lautes Stühlerücken und ein Gewirr von aufgeregten Stimmen drang vom Gastraum herauf.
Zamorra hörte eine Tür klappen und dann Stimmen von der Straße. Es dauerte einen Moment, bis der Professor völlig klar war und den Schlaf abgeschüttelt hatte. Doch dann war er hellwach und schlich zum Fenster.
Es sah so aus, als würden sich alle Gäste des Wirtshauses auf der Straße versammeln. Sonderbarerweise hatte Zamorra nicht den Eindruck einer nahenden Gefahr, so gespenstisch die Szene auch war.
In den Gesichtern der alten Männer hatte ein Ausdruck gelegen, der von Güte und Freundlichkeit kündete.
Irgendwie hatte Zamorra Vertrauen zu den Leuten, und gespannt beobachtete er, was unten auf der Dorfstraße vor sich ging. Es musste schon sehr spät, oder besser gesagt früh sein, denn am Horizont kündigte sich bereits die Morgendämmerung an. Ein heller Streifen lag im Osten über den Bergen, der immer breiter wurde.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin setzten sich die alten Leute in Bewegung. Sie gingen in östlicher Richtung auf das Tal zu, an dessen Ende der sonderbar geformte Felsenturm mit dem Schloss darauf stand.
Irgendetwas trieb den Professor, der Prozession zu folgen. Schnell schlüpfte er in seine Jeans und streifte sich einen Pullover über. An der Zimmertür verharrte er einen Moment, doch unten blieb alles still. Niemand schien die Geräusche aus seinem Zimmer gehört zu haben, zumindest schenkte niemand ihnen Aufmerksamkeit.
Zamorra dachte daran, dass das Dorf bei seiner Ankunft wie ausgestorben gewesen war, und er hatte eine unbestimmte Ahnung, dass es damit eine
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