004 - Das Wachsfigurenkabinett
halb offen. Sie kam an einer Peitschenlampe vorbei. Ihr eigener Schatten war riesig. Plötzlich war ein zweiter da, dann ein dritter. Die Eiseskälte hüllte sie ein. Verzweifelt schrie das Mädchen auf und blieb unbeweglich stehen. Es gab keinen Zweifel, sie hatte drei Schatten, von denen sich einer langsam zu bewegen begann! Er löste sich und schwebte über ihr, dann stürzte er sich auf sie herab und umklammerte ihren Körper, hüllte ihn völlig ein. Miriam erstarrte und fiel steif wie ein Brett um.
Joe war ihr gefolgt. Er kniete neben ihr nieder und drehte sie auf den Rücken. Ihr Körper fühlte sich wie gefroren an. Erschreckt stand er auf. Das Mädchen sah wie eine Statue aus. Die Augen waren weit aufgerissen, der Mund zu einem Schrei geöffnet. Miriams Hände waren seltsam verkrampft. Sie war tot.
»Wir sind da«, sagte Dorian Hunter und stellte den Motor des Wagens ab. Er warf einen Blick auf die zweistöckige Villa, die von seinem Standort aus deutlich zu sehen war. Die Straße war schmal. Sie führte ein Stück in den Marble Hill Park hinein. Bis vor wenigen Stunden hatte Dorian gar nicht gewußt, daß es eine Beaufor Road in London gab. Zwei weitere Wagen blieben in der Nähe des Hauses stehen, doch niemand stieg aus.
»Es ist soweit, Don«, sagte der Dämonenkiller. Der fußgroße Agent reckte sich auf dem Sitz und nickte. Die Ereignisse um den Puppenmacher waren gerade einmal ein paar Wochen her, doch Chapman hatte sich mit seinem Schicksal außergewöhnlich gut abgefunden. Er steckte eine Menge Zeit in die Arbeit mit Dorian Hunter, um nicht allzu viel über seine eigene Situation nachdenken zu müssen. Zwischen ihm und dem Dämonenkiller hatte sich während der letzten Tage fast so etwas wie eine Freundschaft entwickelt.
»Du dringst ins Haus ein und schaust dich um! Aber geh kein Risiko ein!« Dorian beugte sich vor und öffnete die Tür einen Spalt.
Chapman kroch über den Sitz und sprang auf die Straße. Er blieb einige Sekunden im Schatten des Wagens, dann überquerte er die Straße und blieb vor dem Eisenzaun stehen, der das Grundstück umsäumte. Sekunden später war er nicht mehr zu sehen.
Dorian steckte sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster zwei Fingerbreit. Seine Gedanken kreisten um den Secret Service, den er nach den Ereignissen in der Villa Lord Haywards tatsächlich für eine Zusammenarbeit hatte gewinnen können. Die zuständigen Leute hatten endlich den Ernst der Lage erkannt und binnen weniger Tage die Inquisitionsabteilung auf die Beine gestellt, die fortan die Mitglieder der Schwarzen Familie unter den Menschen entlarven und unschädlich machen sollte. Dorian Hunter war selbst überrascht gewesen, wie reibungslos und schnell sich die Details ergeben hatten. Er selbst war zum Großinquisitor ernannt worden, dem wiederum eine Reihe einfacher Exekutor Inquisitoren im Kampf gegen die Dämonen zur Seite standen. Der Leiter der Abteilung wurde als Observator Inquisitor bezeichnet; nicht einmal Dorian kannte seinen wahren Namen. Er vermutete allerdings, daß es der Mann war, dem er kürzlich auf dem Gelände der Jugendstilvilla begegnet war.
Noch ehe das Aufgabenfeld der Inquisitionsabteilung im bürokratischen Sinne vollständig festgelegt worden war, hatte man Dorian Hunter schon den ersten offiziellen Fall übertragen. Nach Lady Hursts Tod hatte man auf Verdacht ihren Bekanntenkreis innerhalb Londons abgeklopft und festgestellt, daß etwa vierzig Personen praktisch über Nacht spurlos verschwunden waren. Der Dämonenkiller vermutete, daß sie ebenfalls zu Vampiren geworden waren, die nach der Zerschlagung des Black-Sabbath-Klubs in der Jugendstilvilla untergetaucht waren. Jetzt galt es, diese Blutsauger einzeln aufzuspüren und zu vernichten.
Vor einigen Stunden hatten Mitarbeiter der Abteilung einen Hinweis erhalten, daß sich im Haus in der Beaufor Road einige der gesuchten Vampire aufhalten sollten. Um ganz sicherzugehen, hatte Dorian jetzt den nur dreißig Zentimeter großen Chapman als Späher ausgeschickt.
»Ich bin im Garten«, vernahm er die Stimme des Puppenmannes durch das Sprechgerät. »Ich muß ein Fenster zerschneiden. Es gibt keinen anderen Weg, um ins Haus einzudringen. Ich melde mich später wieder.«
Dorian warf den Zigarettenstummel auf die Straße und wartete. Er ließ das Haus nicht aus den Augen, doch kein Licht war zu sehen, kein Fenster war erleuchtet.
Chapman war es gelungen, ins Haus einzudringen. Er trug einen schwarzen Overall, der
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