004 - Kerry kauft London
gebieterisches Klopfen, und ohne die Erlaubnis zum Eintreten abzuwarten, wurde die Tür geöffnet, und zwei Männer traten in das Zimmer.
»Marion?« fragte der eine.
»Ich bin Fräulein Marion«, antwortete das junge Mädchen, erstaunt über dieses formlose Eintreten.
Der Mann nickte freundlich. »Ich bin Sergeant Colestaff von der Städtischen Polizei und muß Sie verhaften. Sie werden beschuldigt, der Firma Tack & Brighten vierzehn Pfund gestohlen zu haben.«
Else fiel nicht in Ohnmacht. Regungslos, wie eine aus Stein gemeißelte Figur stand sie da. Frau Gritter aber warf ihr einen finsteren Blick zu und murmelte empört: »Nicht ehrlich!«
»Wer beschuldigt mich?« fragte das junge Mädchen mit schwacher Stimme.
»Herr King Kerry«, erwiderte der Kriminalbeamte.
»King Kerry - nein, nein!« Sie streckte die Hände aus und faßte flehentlich den Arm des Beamten.
»Herr King Kerry«, sagte er sanft. »Ich führe diesen Befehl auf Grund einer von ihm beschworenen Anzeige aus.«
»Es ist unmöglich - unmöglich!« rief sie in Tränen ausbrechend aus. »Es kann nicht sein. - Da muß ein Irrtum vorliegen! Er kann das nicht getan haben - er würde es nicht tun!«
Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf. »Es mag ein Irrtum vorliegen, Fräulein Marion; aber was ich gesagt habe, ist wahr.«
Das junge Mädchen sank in einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Die Hand des Beamten fiel auf ihre Schulter. »Kommen Sie bitte mit!«
Sie stand auf, setzte mechanisch den Hut auf und ging mit den beiden Beamten die Treppe hinunter, die Wirtin sprachlos zurücklassend.
»Nicht ehrlich!« wiederholte sie schließlich. »Du lieber Gott! Was sich diese Ladenmädchen herausnehmen!«
Sie wartete, bis die Haustür ins Schloß fiel, und bückte sich dann, um Elses Koffer unter dem Bett hervorzuziehen. Wenn je, so war jetzt eine Gelegenheit, ein paar Kleinigkeiten mitgehen zu lassen.
Kapitel 9
Else Marion saß auf der Pritsche und starrte auf die getünchte Wand ihrer Zelle. Sie hatten eine Kirchenuhr zwölf schlagen hören. Seit sechs Stunden war sie in Haft; sie schienen ihr sechs Jahre. Sie konnte es nicht fassen.
King Kerry hatte sich am Nachmittag fröhlich von ihr verabschiedet, um nach Liverpool zu fahren, wo er Cyrus Hartpool, der vor kurzem aus Amerika herübergekommen war, treffen wollte. Sie hatte ihn zur Bahn begleitet, hatte bis zur Abfahrt des Zuges mit ihm geplaudert und seine Instruktionen für die Arbeit des nächsten Tages entgegengenommen.
In Liverpool hatte King Kerry, wie ihr ein mitleidiger Polizeiinspektor mitteilte, vor einem Friedensrichter eine Aussage gemacht, und auf telegrafisches Ersuchen der Liverpooler Polizei hatte ein Londoner Richter den Haftbefehl erlassen.
Warum hatte er nicht bis zu seiner Rückkehr gewartet? Sie hätte Aufklärung geben können - wenn überhaupt etwas aufzuklären war -, aber er konnte wohl die Zeit nicht erwarten, um das kleine Paradies, das er vor kurzem geschaffen hatte, wieder zu zerstören. Den ganzen Abend hatte sie dagesessen und sich den Kopf zerbrochen, um eine Erklärung für diese furchtbare Änderung in ihrer Lage zu finden. Es war und blieb ihr ein Rätsel. Das Unglück war zu groß, als daß sie es hätte fassen können.
Sie hatte niemals mit größeren Beträgen zu tun gehabt; sie hatte jeden Abend abgerechnet, und nie war eine Abrechnung beanstandet worden. Aber da war noch ein anderes Rätsel: Um acht Uhr war ihr das Essen gebracht worden. Es war aus dem ersten Londoner Hotel, dem kürzlich eröffneten Schweizerhof, in einer Taxe geschickt worden, ein so hervorragendes Mahl, wie es sich der verwöhnteste Gaumen nur hätte wünschen können. Jung und gesund, wie sie war, hatte sie es sich trotz ihrer üblen Lage ausgezeichnet schmecken lassen. Trotz aller ihrer Fragen konnte sie nur in Erfahrung bringen, daß ein Herr aus Liverpool es telefonisch bestellt habe.
Die Inkonsequenz des Mannes war geradezu erstaunlich. Erst ließ er sie unter dem Verdacht, ein paar Pfund gestohlen zu haben, einsperren, und dann gab er fast ebensoviel, wie sie angeblich gestohlen haben sollte, für ein Essen aus.
Es schlug eins. Sie versuchte vergeblich zu schlafen.
Um halb zwei kam die Wärterin den Gang herunter und schloß die Zelle auf. »Kommen Sie mit!« sagte sie, und das junge Mädchen folgte ihr durch eine andere eisenbeschlagene Tür über eine Treppe in das Untersuchungszimmer. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie das Zimmer betrat; denn
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