004 - Kerry kauft London
sie davon ab; sie würde es ihm ein andermal erzählen; wenn er in besserer Stimmung war.
»Was machen die Entwürfe?« fragte sie freundlich. Das Ziel seiner Sehnsucht war das Baufach, und seine prächtigen Entwürfe waren seine Herzensfreude. Außerdem hatten sie auch materiellen Wert, denn er hatte in der Schule dafür bereits zwei goldene Medaillen bekommen.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht; dann sagte er mit fröhlichem Lachen: »Oh, die sind sehr gut aufgehoben«, worauf er sich rasch verabschiedete.
Sie lief leichten Herzens die Treppe hinauf und mußte unterwegs an Frau Gritters verrufener Tochter vorbei, die schon wieder stark betrunken war. Frau Gritter servierte selbst den unausbleiblichen Tee, machte ihre üblichen Bemerkungen über das Wetter und brachte ihre unvermeidliche Entschuldigung wegen des Zustandes ihrer Tochter vor.
»Ich werde Sie verlassen, Frau Gritter«, sagte das junge Mädchen.
»Ach, wirklich?« Frau Gritter hatte das Gefühl, daß eine solche Gelegenheit es erfordere, ihrer gekränkten Unschuld Luft zu machen. Sie betrachtete nämlich eine Kündigung als eine unberechtigte Kritik ihrer Hausfrauentüchtigkeit.
»Ich - ich habe eine bessere Stellung bekommen«, fuhr Else fort; »deshalb kann ich es mir leisten, etwas mehr für ein Zimmer auszugeben.«
»Da habe ich im ersten Stock das Vorderzimmer mit Flügeltüren …«, deutete Frau Gritter erwartungsvoll an. »Wenn Sie zehn Shilling die Woche mehr zahlen könnten -«
Else schüttelte lachend den Kopf. »Danke sehr, Frau Gritter; aber ich möchte näher an meiner Arbeitsstelle wohnen.«
»Die Untergrundstation liegt so gut wie gegenüber«, fuhr die Wirtin unverdrossen fort; »Omnibusse sozusagen nach allen Richtungen. Es ist sehr schwer für mich, in einer Woche zwei Mieter zu verlieren.«
»Zwei?« fragte das junge Mädchen überrascht. Die Wirtin nickte und flüsterte Else dann vertraulich zu: »Unter uns, Fräulein Marion, es ist mit Herrn Bray die reine Last gewesen; er hat nie die Miete pünktlich bezahlt und ist sie mir jetzt noch für drei Wochen schuldig.« Dabei putzte sie ihre Brille mit einem Zipfel ihrer Schürze.
Else erschrak. Es war ihr niemals eingefallen, sich nach Brays Verhältnissen zu erkundigen. Sie wußte zwar, daß es ihm nicht gerade besonders gut ging, hatte aber keine Ahnung, daß es so schlecht mit ihm stand. Jetzt wurde ihr auch klar, weshalb er in so bitterem Ton von seiner Gehaltsaufbesserung um einen Shilling gesprochen hatte.
»Das kommt vom Studieren«, sagte Frau Gritter bekümmert. »Geld wegwerfen, um sich den Kopf mit nutzlosem Zeug vollzuproppen, statt sich was in den Magen zu schlagen und auf den Leib zu hängen. Was kommt denn dabei raus? Bildung! Macht nur die Gefängnisse voll und die Arbeitshäuser - und das Heer.«
Sie hatte einen Sohn bei den Soldaten und war infolgedessen nicht gut auf das Heer zu sprechen; Söhne beim Militär bedeuten für die Familie immer eine finanzielle Belastung.
Das junge Mädchen biß sich nachdenklich auf die Lippen.
»Vielleicht«, meinte sie zögernd, »vielleicht, wenn ich Ihnen die - rückständige Miete bezahle …«
Ein Freudenstrahl blitzte in den Augen der Wirtin auf, verschwand aber sofort wieder.
»Das hat keinen Zweck. Übrigens hat er mir ein paar Sachen als Pfand für die Miete gegeben.«
»Ein paar Sachen?« Stirnrunzelnd sah Else die Frau an. »Was für Sachen?«
Frau Gritter wich ihrem Blick aus.
»Doch nicht seine Entwürfe?« fragte das junge Mädchen rasch.
Frau Gritter nickte. »Zu haben und zu behalten«, sagte sie in der irrigen Meinung, sich in juristischer Terminologie zu ergehen, »bis er wirklich bezahlt.«
»Sie hätten das nicht annehmen sollen«, entgegnete das junge Mädchen heftig. »Sie wußten doch, daß er rechtzeitig zahlen wird.«
»Er hat sie mir nicht eigentlich gegeben, ich habe sie mit Beschlag belegt, wie das Gesetz es zuläßt.«
Das junge Mädchen starrte sie an, als wäre sie ein neues, fremdartiges Insekt. »Sie haben sie mit Beschlag belegt? Haben sie aus seinem Zimmer genommen?«
Frau Gritter nickte. »Nach dem Gesetz«, rechtfertigte sie sich.
»Nein, so was!« rief das junge Mädchen aus. »Sie sind nicht ehrlich!«
Dunkle Zornesröte stieg der trefflichen Frau Gritter in die Wangen.
»Nicht ehrlich?« wiederholte sie, und ihre Stimme schnappte fast über. »Sagen Sie das nicht noch einmal von anständigen Leuten, Fräulein …«
Es klopfte an die Tür. Es war ein lautes,
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