004 - Kerry kauft London
tun.«
Sie klinkte die Tür auf und trat ein; King Kerry folgte ihr. Beim Schein der Deckenlampen sahen sie eine Gestalt im Bett und unordentliche Haarsträhnen auf dem Kissen.
»Ria!« rief Frau Gritter laut, »Ria, wach auf!«
Aber die Gestalt im Bett rührte sich nicht. Kerry schritt rasch an der Frau vorbei und legte den Handrücken auf die bleiche Wange.
»Sie gehen am besten hinunter und sagen den Leuten, die draußen vor der Tür warten, daß ich sie brauche.«
»Was meinen Sie damit?« stammelte Frau Gritter zitternd.
»Ihre Tochter ist tot«, erwiderte er ruhig. »Sie ist von jemand ermordet worden, der über das Küchendach durch das Fenster gestiegen ist.« Er deutete auf das offene Fenster.
King Kerry hatte die Wahrheit gesprochen. Sie war tot; ermordet von Leuten, die aus Else die Worte herauspressen wollten, die das Kombinationsschloß an Kerrys Riesensafe öffnen würden.
Denn Hermann Zeberlieff hatte richtig vermutet, daß King Kerry seinen Safe immer noch mit dem Namen einer Straße verschloß; und diese Straße hieß »Kingsway«.
Kapitel 10
Der Mord an einem betrunkenen Frauenzimmer bildete kurze Zeit das Tagesgespräch, und es wurden mancherlei Vermutungen laut. Die Obduktion ergab, daß die Frau von den Tätern schwer mißhandelt worden war; der Tod war durch Erwürgen herbeigeführt worden.
Verhaftungen erfolgten nicht, und die Untat wurde in das Verzeichnis der unaufgeklärten, geheimnisvollen Verbrechen Londons aufgenommen.
Vier Tage nach der aufsehenerregenden Entdeckung des Verbrechens saß Else an ihrem Schreibtisch und ordnete King Kerrys Korrespondenz. Wie so viele andere große Männer hatte er kleine liebenswürdige Schwächen; zu diesen gehörte die Abneigung vor der Beantwortung von Briefen, die nichts mit seinen Plänen zu tun hatten. Er war sich dieses Fehlers durchaus bewußt, und jedesmal, wenn sein Blick auf den immer größer werdenden Haufen von geöffneten und ungeöffneten Briefen fiel, schüttelte er sich.
Else hatte den Berg fast aufgearbeitet. Bei den meisten Briefen brauchte sie ihren Chef gar nicht zu fragen. Es waren entweder Bettelbriefe oder Schreiben von Schwindlern, die wundervolle Erfindungen anpriesen, durch die sie und die Ausbeuter der Erfindung mit geringen Kosten an Zeit und Geld ein Vermögen erwerben könnten. Es waren auch Briefe religiösen Inhalts dabei mit dick unterstrichenen, ermahnenden Bibelworten. Jede Post brachte Aufrufe zu Sammlungen für wohltätige Zwecke.
In der Schublade ihres Schreibtisches hatte Else ein Scheckbuch, das ihr gestattete, von einem für sie einge richteten Konto Geld abzuheben. Es war King Kerrys Konto für wohltätige Zwecke. Die Höhe der Zuwendungen blieb ihr überlassen. Zuerst hatte sie vor der Verantwortung Angst gehabt, aber dann faßte sie die Sache mutig an.
»Es gehört ebensoviel Mut dazu, einen Scheck zu unterzeichnen, wie zu verhungern«, war einer von King Kerrys seltsamen Aussprüchen Sie arbeitete sich glänzend durch den vor ihr liegenden Berg von Briefen hindurch - die einen wanderten in den Papierkorb, auf andere kritzelte sie nach einigem Stirnrunzeln und Kauen des Federhalters eine Zahl. Sie kannte die Leute, mit denen sie es hier zu tun hatte; sie hatte ja in ihrer Mitte gelebt, hatte ihren kärglichen Lunch an Tischen eingenommen, an denen berufsmäßige Bettelbrief Schreiber ungeniert ihre Briefe verglichen hatten.
Sie schaute auf, als der diensttuende Verwalter ihr eine Karte überreichte. Beim Lesen des Namens verzog sie ein wenig das Gesicht.
»Weiß er, daß Herr Kerry in die Stadt gegangen ist?«
»Ich habe es ihm gesagt«, erwiderte der Verwalter, »aber er bat um eine Unterredung mit Ihnen persönlich.«
Sie betrachtete noch einmal unschlüssig die Karte. Die Situation entbehrte nicht des Humors. Vor einer Woche hatte es sich der hochnäsige Herr Tack nicht träumen lassen, daß er einmal »unserem Fräulein Marion« seine Karte hineinschicken und sie um eine Unterredung bitten würde.
»Lassen Sie ihn bitte eintreten … und, Carter …«
»Ja, Fräulein?«
»Ich hätte gern, daß Sie während des Besuchs von Herrn Tack hier im Zimmer bleiben.«
Der Mann legte grüßend die Hand an die Mütze und ging hinaus, um gleich darauf mit dem ehemaligen Juniorchef der Firma Tack & Brighten wieder ins Zimmer zu treten.
Herr Tack lachte über das ganze Gesicht und reichte ihr mit der größten Leutseligkeit die behandschuhte Rechte. »Schau, schau!« rief er mit unverstellter
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