0043 - Der Vampir von Manhattan
sehe nur so aus, als würde ich jeden Tag drei Leute totschlagen. In Wirklichkeit sind es höchstens zwei.«
Laurie lachte, das Eis war gebrochen. Sie hängte sich bei uns ein, und gemeinsam wanderten wir zum Lift, der uns zwei Etagen tiefer brachte. Beim Gepäckband mußten wir eine Weile warten, bis wir unsere Koffer erhielten.
Wir überbrückten sie mit Unterhaltung. Laurie erzählte New Yorker Anekdoten. In ihrer Branche als Reporterin erlebte sie nicht gerade wenig. Ihr Metier waren soziale Themen und Angelegenheiten, die speziell Frauen betrafen.
Beim Zoll wurden wir nicht aufgehalten. Jetzt suchten wir das nächste Restaurant auf und setzten uns an einen freien Ecktisch. Die beiden Tische in der nächsten Nähe waren frei. Wir konnten frei von der Leber weg reden. Laurie Ball bestellte beim Kellner einen Martini, Suko einen Kaffee und ich einen Tee.
»Erzähle uns von dieser Vampirgeschichte«, forderte ich Laurie auf. »Die schriftliche Nachricht war ziemlich knapp. Die Angelegenheit ist doch ernstzunehmen?«
Laurie schnitt eine Grimasse. »Deswegen wollte ich den Martini. Ja, es ist ein sehr ernster Fall. Wenn du nicht helfen kannst, John, dann sieht es schlimm aus.«
Sie erzählte von Frank Harper, einem zwanzigjährigen Geschichts- und Anglistik-Studenten an der Columbia University in Manhattan. Frank hatte schon als Kind einen Hang zum Okkulten gehabt, zeitweise sollte er regelrecht weggetreten gewesen sein. Er zeichnete als kleiner Junge vorzugsweise Särge und Skelette und zitierte manchmal Abschnitte aus dem berüchtigten »Necronomicon« des wahnsinnigen Arabers Abu Alhazred und anderen Werken der Dämonologie und Magie.
Die fassungslosen Eltern konnten sich das überhaupt nicht erklären. Meistens benahm sich Frank wie ein völlig normaler Junge. Er war lebhaft, am Sport interessiert und draufgängerisch.
»Es war, als hätte er zeitweise unter einem fremden Einfluß gestanden«, schilderte Laurie. »Er selbst sprach auch von einer Stimme, die ihm die Dinge zuflüsterte, die er dann sagte. Und er hatte ein Wissen über Details vergangener Zeiten, das schon ans Wunderbare grenzte.«
»Hm, das ist allerdings bemerkenswert. Weiter, Laurie.«
Der Kellner brachte unsere Getränke, und wir schwiegen, bis er wieder weg war. »Während der Pubertät verloren sich Franks Eigenarten völlig«, fuhr Laurie dann fort. »Zur großen Erleichterung seiner Eltern. Er beendete das College mit Auszeichnung und begann sein Studium an der Columbia University. Doch vor achtzehn Monaten brach sein Hang zum Okkultismus wieder voll durch. Gepaart mit einem Interesse für die Familiengeschichte der Harpers, das schon manisch zu nennen war. Damals war Frank schon einige Monate mit Linda Maitland befreundet. Er begann sich abzukapseln, als seine okkulte Phase wieder anfing, vernachlässigte sein Studium und hatte fast nur noch für seine eigenen Studien Interesse. Seine Freundin Linda drang in ihn, doch er wollte sich ihr nicht anvertrauen. Er sagte nur, er würde sich mit großen Dingen beschäftigen, die die Geschichtswissenschaft revolutionieren könnten. Frank hatte die Universitätslaufbahn einschlagen und Hochschulprofessor werden wollen. Wenn seine Arbeiten abgeschlossen wären, würde zwischen ihnen wieder alles so sein wie früher, so sagte er zu Linda.«
»Näher äußerte er sich nicht?«
»Nein. Nur ein- oder zweimal sprach er von Salem und von Dingen, die auch Cotton Mather, der um 1690 herum eine Welle von Hexerprozessen inszenierte, sich nicht hätte träumen lassen. Er erwähnte den alten Montague und seine Gefährtin Asenath, er sprach von den tanzenden Schatten im schottischen Hochland und von den unnennbaren Greueln in den Hügeln. Von den Männern und Frauen, die nicht älter wurden.«
Ein leichter Schauder überlief mich, als ich davon hörte. Ich hatte alte Aufzeichnungen über einen fluchwürdigen Geheimkult in Schottland gelesen, der seit der Zeit der keltischen Druiden existierte. In den Dokumenten hieß es, daß die Oberpriester des Kultes tausend Jahre und älter gewesen wäre.
Oliver Cromwell, der englische Lordprotektor, hatte den Kult bis 1650 herum ausgerottet und dem Schrecken ein Ende gesetzt. Könnte es vielleicht möglich sein, daß Anhängern dieses Kultes die Flucht in die Neue Welt, nach Amerika, gelungen war?
»Im Sommer war Frank Harper während der gesamten sechswöchigen Semesterferien verschwunden«, fuhr Laurie fort. »Obwohl er Linda Maitland versprochen hatte, mit
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