0043 - Die Geister-Lady
geworden, als man ihm – verständlicherweise – die Ausreisegenehmigung nicht erteilte…«
»Das ist Ihr Freund!«, sagte Vitali kalt.
Lipski hob sofort beide Hände. »Das war mein Freund, Genosse Oberst. Er ist es schon lange nicht mehr.« Es war gefährlich, solche Freunde zu haben, deshalb musste sich Fedja von Semjon sofort distanzieren.
»Er konnte sich seiner Verhaftung entziehen!«, knurrte Vitali. »Ist seither flüchtig. Ich will ihn haben, Fedja Lipski…«
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, Genosse Oberst…«
»Seine Wohnung wird bewacht. Außer Ihnen hat er keinen Freund…«
»Auch ich bin seit langem nicht mehr sein Freund, Genosse Oberst.«
»Weshalb eigentlich nicht?«
Lipski zuckte die Achseln. »Seine politischen Ansichten gefielen mir nicht.«
Der hellhörige KGB-Oberst kniff sofort die Augen zusammen.
»Was hatte er denn für Ansichten?«
»Er nannte ganz Russland einen Misthaufen… Und er war gegen Kossygin …«
Vitalis Gesicht wurde grau. »Und da haben Sie ihn nicht sofort angezeigt, Genosse?«
Lipski zuckte mit den Achseln. »Damals war er noch mein Freund.«
»Freund hin, Freund her. Sie hätten ihn anzeigen müssen!«, schrie Vitali aufgebracht. »Ich weiß nicht, ob ich nicht auch Schritte gegen Sie unternehmen sollte!«
Lipski erschrak. Verflucht, er hatte zu dick aufgetragen. Nun versuchte er hastig, die Wogen wieder zu glätten. Er schwächte ab, wo er konnte, und er gab dem Oberst wieder zu trinken, um ihn versöhnlicher zu stimmen. Er hatte Glück. Vitalis Jagdfieber war auf Semjon ausgerichtet. Er wollte sich nicht verzetteln.
»Wo kann sich Ihr ehemaliger Schulfreund verkrochen haben, Fedja Lipski? Wir wissen, dass er sich hier in der Gegend herumtreibt. Vielleicht wird er versuchen, aus Russland rauszukommen. Aber allzu weit wird er nicht kommen. Die Miliz weiß, dass wir ihn suchen. Früher oder später wird sie ihn schnappen, darüber besteht nicht der geringste Zweifel. Aber ich habe nicht die Geduld, so lange zu warten. Ich will den Jungen in den nächsten Tagen kassieren und vor Gericht bringen, verstehen Sie?«
Lipski nickte ernst. »Er verdient es nicht anders, Genosse Oberst.«
»Kennen Sie hier in der Gegend ein Versteck? Eines von früher vielleicht. Wo Sie sich als Kinder verborgen haben. An das sich Semjon Muratow nun wieder erinnern könnte…«
Fedja schüttelte langsam den Kopf. »Tut mir aufrichtig Leid, Genosse Oberst. Aber es hat niemals ein solches Versteck gegeben. Ich nehme an, Semjon ist in die Taiga geflohen.«
»Wenn der Winter kommt – und der kommt bald –, wird ihn die Taiga umbringen. Das weiß er. Deshalb braucht er ein frostsicheres Versteck.«
»Ich kenne keines«, sagte Lipski. Und dabei blieb er.
Kyrill Vitali hob den Finger. »Ich warne Sie, Fedja Lipski. Sollten Sie mir irgendetwas verheimlichen…«
Lipski gab sich entrüstet. »Ich wäre verrückt, wenn ich das täte.«
Diese Äußerung gefiel dem Oberst. Er nickte zustimmend. »Das wären Sie in der Tat…«
***
Das schaurige Erlebnis ging den beiden Ehepaaren nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten Angst vor jedem Schritt, den sie aus dem Haus machten. Anja Plotkinowa hatte sie verflucht, weil sie es gewagt hatten, in jener Vollmondnacht ihre Ruhe zu stören. Nie wieder sollten sie Glück haben. Und nun warteten sie Tag für Tag darauf, dass irgendetwas Schlimmes passierte. Milda Dagorskaja hockte die meiste Zeit zu Hause und weinte leise vor sich hin. Valentina Sellnowa erging es ähnlich. Oleg Dagorski arbeitete in einer Druckerei. Er wagte kaum einen Handgriff zu tun, weil er befürchtete, es könnte dabei zu einem bösen Unfall kommen. Und Tichon Sellnow – er war Holzfäller – rechnete jeden Tag damit, dass ihn einer der Bäume erschlagen würde.
Noch war nichts geschehen.
Das hieß aber noch lange nicht, dass auch in Zukunft nichts passieren würde.
Es war zu jener Stunde, wo Kyrill Vitali wie ein Bär gegen die Tür von Fedja Lipskis Haus getrommelt hatte. Oleg Dagorski war dabei, ein Flugblatt für eine kleine Parteiversammlung anzufertigen. Die Lettern standen bereits auf dem Satzschiff. Nun fügte Dagorski Blindmaterial hinzu. Er legte immer wieder die handgezeichnete Vorlage an, um zu messen, ob die vorgeschriebene Satzhöhe schon erreicht war. Als Blickfang sollte ein Klischee verwendet werden, doch der Holzklotz, auf den die Druckplatte aufgenagelt war, war etwas zu groß. Also musste es abgeschnitten werden.
Dagorski begab sich in die
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