0043 - Die Geister-Lady
kleine Kammer, in der sich die Kreissäge befand. Mit gemischten Gefühlen schaltete er sie ein. Bestimmt hätte er gern einen Kollegen gebeten, diese Arbeit für ihn zu tun, doch was hätte er sagen sollen? Dass er Angst hatte, die Kreissäge zu bedienen? Sie hätten ihn alle ausgelacht. Der ganze Betrieb hätte ihn zum Gespött gemacht. Schrill pfeifend rotierte die gezackte Metallscheibe. Oleg klemmte das Klischee in die dafür vorgesehene Halterung. Schweiß brach ihm aus den Poren, als er den Holzklotz nun langsam auf die Kreissäge zu bewegte.
Er schien das Unheil zu fühlen, das hier drinnen in diesem kleinen engen Raum, in dem man kaum genug Luft zum Atmen hatte, auf ihn lauerte. Er – ein Mann mit den Schultern eines Ringers – hatte schreckliche Angst.
Nun fassten die Zähne. Die Säge kreischte schrill auf. Es roch nach verbranntem Holz. Die Zähne fraßen sich in das Holz wie ein heißes Messer in Butter.
Doch plötzlich gab es einen singenden Ton. Die Metallscheibe der Säge brach. Jaulend flog ein Teil davon weg. Es flog so rasend schnell, dass es Oleg Dagorski nicht einmal sah. Er war auch nicht in der Lage, zu reagieren.
Das Metall sauste Oleg tief in den Hals. Er spürte keinen Schmerz, nur einen harten Schlag, der ihn nach hinten gegen die Holzwand schleuderte.
Mit schreckgeweiteten Augen sah er, dass alles um ihn herum voll mit seinem Blut war.
Er wollte um Hilfe schreien, doch er brachte keinen Ton hervor.
Kurz darauf setzten die höllischen Schmerzen ein.
Als man ihn endlich in jener kleinen Kammer entdeckte, lebte er bereits nicht mehr…
***
»Professor Zamorra«, sagte Fedja Lipski und musterte den Eintretenden aufmerksam. »Man hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie sollen ein außergewöhnlicher Mensch sein. Und Sie sollen sehr viel Mut haben. Nun, sehr viel Mut werden Sie brauchen. Wissen Sie, wer vor einer halben Stunde hier durch diese Tür mein Haus verlassen hat?«
»Wer?«, fragte Zamorra.
»Kyrill Vitali. Der schärfste Spürhund des KGB. Der Oberst ist davon überzeugt, dass er den armen Semjon ausfindig macht. Seit er hier bei mir war, bin ich fast geneigt, diese Überzeugung mit ihm zu teilen.«
»Ihre Worte strotzen geradezu von Optimismus«, sagte Zamorra sarkastisch. »In einer ähnlichen Gemütsverfassung bin ich selbst, Fedja. Ich hatte gehofft, Sie würden mir etwas sagen, was mich aufrichtet.«
»Ich wollte, ich wäre dazu in der Lage«, erwiderte Lipski. Und wieder trat seine Wodkaflasche in Aktion. Diesmal bot er seinem Gast jedoch das Getränk mit Freuden an. »Es ist Wodka aus meiner Heimat«, sagte er stolz.
»Wo ist Ihre Heimat?«, fragte Zamorra.
»Ich bin Burjate.« Lipskis Augen leuchteten. »Aufgewachsen am Ufer des Baikal. Er ist für die Sibirier das gleiche, was Mekka für einen sudanesischen Derwisch bedeutet. Er ist ein Naturwunder, das größte aller Wunder. Er ist der älteste, der klarste, der tiefste und auch der schönste See der Welt, Professor Zamorra. Man spricht ihm geheimnisvolle Kräfte magischen Ursprungs zu, die niemand erklären kann. Er beherbergt sonderbare Wassertiere, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Die Berge und Felsklüfte in seiner Umgebung bergen märchenhafte Reichtümer, und die Wälder dieses Gebietes sind voll von ungewöhnlichen Tieren und alten Schamanen, die Todesflüche ausstoßen und Tote zum Leben erwecken können…«
Zamorra staunte. Er fragte sich, ob Lipski das alles glaubte, was er da erzählte.
Der Russe sprach von einem sonderbaren Fisch, den die Einheimischen Golomianka nennen. Er legt keine Eier, sondern bekommt lebende Junge. Nach diesem freudigen Ereignis, das im frühen Herbst stattfindet, stirbt ein Teil der ausgewachsenen Fische. Die meisten der toten Tiere sinken in die Tiefe und werden dort gefressen. Die Körper der toten Weibchen jedoch treiben an der Oberfläche und werden von Zeit zu Zeit in großen Massen ans Ufer gespült. In der Sonne liegend, »schmelzen« die Tierkörper förmlich. Nur Kopf und Gräten bleiben zurück…
Nachdem Zamorra seinen dritten Wodka getrunken hatte, vermochte er Lipski vom Baikalsee zurückzuholen. Der Mann verblüffte ihn. Er redete mit einer Liebe von seiner Heimat, wie Zamorra noch niemanden erzählen gehört hatte. Und doch arbeitete er für den britischen Geheimdienst.
Sie kamen wieder auf Semjon Muratow zu sprechen.
»Er war hier«, erzählte Fedja. »Hier in meinem Haus. Kurz nachdem er vor den KGB-Leuten, die ihn in seiner Wohnung verhaften
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