0043 - Die Geister-Lady
Stadt hineinzufahren. Lipski sollte in einem Haus wohnen, das weit vor dem Stadtrand stand. Wenn er mir nicht helfend unter die Arme greift, weiß ich nicht, wo ich den Jungen suchen soll, dachte Zamorra.
***
Als die Aeroflot-Maschine, in der Professor Zamorra saß, sich auf die Landebahn von Nowosibirsk herabsenkte, blickte Fedja Lipski auf seine Armbanduhr. Er nagte nervös an der Unterlippe. Die AN-2 war über das Dach seines Hauses hinweggerast. Dass Zamorra sich darin befand, wusste er. Schnell ging er zu einem alten Schrank und nahm die Wodkaflasche heraus. Ein Gläschen sollte seinen Kummer ein wenig lindern.
Mit Schwung schüttete er sich den klaren Wodka in die Kehle.
Dann meinte er brummig: »Semjon, du verrückter Hund. Es gibt so viele schöne dralle Russinnen. Wahre Prachtexemplare sind das. Warum musstest du dich ausgerechnet in Jessica Martin verlieben? Kannst du mir das verraten? Nein, das kannst du gewiss nicht!«
Lipski goss sein Glas erneut voll.
Es klopfte. Fedja Lipski beendete sein Selbstgespräch. Er sperrte die Wodkaflasche in den Schrank, denn jeder, der zu ihm kam, war es nicht wert, ein Gläschen zu bekommen.
Wieder klopfte es. Da schien jemand mit einem Hammer gegen die Tür zu schlagen. Die Hiebe hallten durch das ganze Haus. Lipski hob gleichmütig die Schultern und schürzte die Unterlippe. »Ein Bär vielleicht«, sagte er. »Das wäre immer noch besser als einer vom KGB. Soll sich ja einer aus Moskau in der Gegend herumtreiben.«
Erneutes Klopfen.
»Ja! Ja!«, schrie Lipski ärgerlich. »Ich komm schon. Soll ich fliegen oder rasen?«
Grimmig begab er sich zur Tür. Er war ein großer Mann, drahtig, mit schmalen Schultern und einem kleinen Kopf, aus dem listige Augen herausschauten.
Mürrisch riss er die Tür auf. Was er als erstes sah, war ein KGB-Ausweis. Dann erst entdeckte er das Gesicht von Oberst Kyrill Vitali. Granitharte Züge. Ein bleistiftstrichdünner Mund. Und aus den Augen strömte eine eisige Gefühlskälte. Natürlich. Nur solche Menschen bringen es beim KGB zum Oberst!
Obwohl Lipski erschrak, ließ er es sich nicht anmerken. Mit fester Stimme fragte er: »Sie wünschen?«
»Sind Sie Fedja Lipski?«, fragte der KGB-Oberst und steckte seinen Ausweis ein, der ihm überall Tür und Tor öffnete.
»Ja, der bin ich.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Worüber?«
»Wollen Sie mich nicht ins Haus bitten, Genosse?«
»Natürlich. Entschuldigen Sie. Kommen Sie herein, Genosse Oberst.«
Mit einem spöttischen Lächeln trat Vitali ein. Vielleicht ist es der KGB, der mich zwingt, für den Secret Service zu arbeiten, dachte Lipski ärgerlich. Vielleicht ist es das System in diesem Land, das einen KGB zulässt und Leute wie mich sein Vaterland hassen lässt…
Im Wohnzimmer setzte sich Vitali, ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre. Der KGB war in jedem russischen Haus willkommen.
Und er vertrat ihn. Also war er willkommen. Zumindest wagte kein Russe, das Gegenteil zu behaupten.
Lipski setzte sich ebenfalls. Seit er wusste, dass sich dieser Oberst in der Gegend herumtrieb, hatte er mit seinem Besuch gerechnet.
Und nun, wo Vitali da war, war Lipski mulmig im Magen. Klar, dass Kyrill Vitali wegen Semjon gekommen war.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, erkundigte sich Lipski.
Vitali verlangte Wodka. Sie tranken gemeinsam.
»Ich komme zu Ihnen, Genosse Lipski«, begann schließlich der Mann vom KGB, »weil Sie mit einem Mann namens Semjon Muratow zur Schule gegangen sind.«
Lipski lächelte, als würde er sich dunkel an den Schulfreund erinnern.
»Semjon… Ja. Ein gescheites Kerlchen.«
Vitali zog die Brauen zusammen. »Nun, gar so gescheit scheint er nicht zu sein. Man hat ihn zum politischen Feind erklärt.«
Lipski erschrak sehr gut. »Zum politischen Feind? Semjon Muratow? Das kann ich nicht glauben!«
»Wenn ich es sage…«
»Es klingt so, als würden Sie sagen, man hätte Breschnew aus der Partei ausgeschlossen.«
Vitali schoss Lipski einen eiskalten Blick zu.
»Verzeihen Sie«, sagte der Agent daraufhin schnell. »Das war wohl kein passender Vergleich.«
»Nein, Genosse Lipski. Das war es wirklich nicht.«
Fedja Lipski bat den Oberst, ihm zu erzählen, wie es mit seinem Schulfreund so weit kommen konnte. Kyrill Vitali erzählte, was Fedja längst wusste, aber offiziell nicht wissen durfte.
»So ist das also«, sagte er, als der Oberst geendet hatte. »In ein englisches Mädchen hat er sich verliebt, dieser Ochse. Aufsässig ist er
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