0047 - Unser Staatsfeind Nummer 1
gegessen. Seit dem Frühstück war es das erste, was wir zu uns nahmen, und es war spät genug.
Das Mädchen öffnete auf unser Klingeln hin. Es war kreidebleich und hatte rotgeweinte Augen.
Unwillkürlich sprach ich gedämpft, als ich fragte: »Wo ist der Professor, Mary? Wir müssen mit ihm sprechen.«
»Er sitzt in der Bibliothek, Mr. Cotton, in der Bibliothek. Oh, es ist ja alles so schrecklich!«
Sie sah aus, als würde sie gleich wieder zu weinen anfangen, aber zum Glück hatte sie sich anscheinend schon so gründlich ausgeweint, daß sie keine Tränen mehr hatte. Vor weinenden Mädchen bin ich hilflos wie ein neugeborenes Baby.
»Wie geht’s der Frau Professor?« erkundigte ich mich.
»Oh, es war schrecklich, Mr. Cotton! Ganz schrecklich. Sie kam kurze Zeit, nachdem Sie weggegangen waren, zu sich. Wir haben gedacht, sie würde sterben vor Kummer. Es war fürchterlich… Der Herr Professor hat ihr dann etwas zu trinken gebracht. Ich glaube, er hatte heimlich ein Schlafmittel hineingemischt, denn kurze Zeit später schlief die Gnädige ein. Sie schläft jetzt noch.«
»Das ist das beste«, sagte ich. »Melden Sie uns jetzt dem Professor, Mary.«
»Ja, Mr. Cotton.«
Sie verschwand. Wir warteten in der Diele. Ich hatte Phil bereits darüber unterrichtet, daß ich überhaupt nur durch die Autoliste auf den Professor gestoßen war. Da auch er wußte, daß unser Doc von dem Mörder behauptet hatte, er hätte seine brutale Tat mit chirurgischen Instrumenten ausgeführt, waren wir ziemlich gespannt, ob der Professor ein einwandfreies Alibi für sich beibringen konnte.
Es dauerte sehr lange, bis das Mädchen zurückkam.
»Es tut mir sehr leid, Mr. Cotton«, sagte sie. »Ich habe alles versucht, aber es hat alles nichts genutzt. Der Herr Professor will keinen Menschen sehen.« Ich nagte an meiner Unterlippe. Auf der einen Seite konnte ich den Mann völlig begreifen. Wenn er unschuldig war, mußte der Tod seiner Tochter, die wahrscheinlich sein einziges Kind war, ihn natürlich hart treffen. Andrerseits ging es hier nicht darum, ob wir für irgend etwas Verständnis hatten, sondern darum, daß wir den Mörder finden mußten — und zwar so schnell wie möglich.
»Komm, Phil«, sagte ich.
Aber ich ging nicht zur Haustür. Ich marschierte auf die Bibliothek zu, in der ich ja heute mittag schon gewesen war. Mary wollte sich uns in den Weg stellen, ich schob sie beiseite.
»Lassen Sie uns mal machen, Mary«, sagte ich. »Es ist nötig. Wir müssen mit ihm sprechen, ob er will oder nicht.«
Sie zuckte die Achseln und gab den Weg frei. Einen Augenblick lang zauderte ich, weil ich nicht wußte, ob ich nun anklopfen sollte oder nicht. Dann ließ ich es bleiben und drückte langsam die Türklinke nieder und die Tür auf.
Der Professor saß an einem massiven Schreibtisch und starrte unentwegt auf ein großes Porträtfoto. Er wandte uns den Rücken zu, und deshalb konnten wir über seine Schulter hinweg auf das Bild sehen.
Es gab gar keinen Zweifel. Das Bild stellte eine sehr gute Aufnahme des Mädchens dar, das wir auf der ersten Kreuzung gefunden hatten, die Identität war also erwiesen.
Unwillkürlich traten wir ganz leise auf, während wir um den Schreibtisch herumgingen. Der Professor hörte uns und sah auf. Seine Augen kamen aus einer weiten Ferne zurück.
»Was — was ist denn?« fragte er leise. »Ist etwas?«
Er war mit seinen Gedanken offensichtlich überhaupt nicht ganz da.
»Herr Professor«, sagte ich. »Wir sind FBI-Beamte. Das ist Phil Decker, ich bin Jerry Cotton. Ich war heute mittag schon mal hier.«
»So? Ja? Ich weiß nicht — es fällt mir so schwer, mich an irgend etwas zu erinnern…«
Wir setzten uns unaufgefordert vor ihm in zwei Sessel. Er griff wieder nach dem Bild. Ich nahm es ihm schnell aus der Hand, indem ich fragte: »Das ist eine Aufnahme Ihrer Tochter, ja?«
Ich wollte verhindern, daß er durch das Bild wieder in seine Grübelei verfiel. Wir brauchten jetzt einen Verstand.
»Ja, das ist Lizzy…«, murmelte er. »Es ist ein gutes Bild, nicht wahr?«
»Ja, wirklich.«
Ich legte das Foto verdeckt zwischen Phil und mir auf den Rauchtisch. Jetzt mußte ich ihm einen seelischen Tiefschlag verpassen. Aber es mußte sein.
»Herr Professor«, sagte ich. »Sie haben sicher inzwischen die Zeitungen gelesen. Sie wissen jetzt, daß Ihre Tochter ermordet wurde. Bestialisch ermordet wurde. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das sagen muß. Aber Sie müssen jetzt einmal unseren Standpunkt
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