0047 - Unser Staatsfeind Nummer 1
und dem Mörder keinerlei Bekanntschaft, gleich welcher Art. Dann war es also gewissermaßen ein Zufall, daß ausgerechnet Ihre Tochter das Opfer wurde. Diesen Fall wollen wir lieber nicht hoffen.«
»Warum?« fragte er.
»Weil wir dann lange nach dem Mörder suchen können. Wir haben leider keine Spur von dem Mann und nur ein paar ganz vage Anhaltspunkte. Die zweite Möglichkeit aber ist die, daß der Mörder Ihre Tochter kannte. Daß er sie aus einem ganz bestimmten Motivermordete. Das Motiv müßte natürlich noch gefunden werden. Aber in diesem Falle war ja der Mörder einer aus dem Bekanntenkreis Ihrer Tochter. Wenn wir eine umfassende Liste aller Bekannten Ihrer Tochter aufstellen könnten, müßte sich der Mörder in dieser Liste befinden.«
»Ich verstehe«, nickte der Professor. »Fangen wir an, denn es wird eine Heidenarbeit werden, alle Bekannten zusammenzubekommen, von denen ich weiß. Wie viele Leute dann Lizzy obendrein noch gekannt hat, das mag der Himmel wissen.«
»Wir werden jeden Bekannten, den Sie uns nennen können, fragen, wer alles Lizzy gekannt hat«, sagte ich. »Auf diese Weise müssen wir langsam eine Liste bekommen, die einigermaßen vollständig ist.«
»Also gut. Fangen wir an.«
Wir schrieben auf. Wir schrieben zwanzig Minuten lang Namen und Adressen auf. Die Liste wurde lang und länger. In einer Gründlichkeit, die uns außerordentlich gefiel, erinnerte sich der Professor ununterbrochen noch an mehr Leute, die Lizzy kennen mußten.
Wir waren mit der Liste noch nicht fertig, als es an die Tür der Bibliothek klopfte. Der Professor sah auf und rief: »Ja, herein!«
Die Tür öffnete sich, und Mary erschien. Sie war noch immer sehr blaß und hatte eine heisere Stimme.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte sie. »Draußen ist ein Herr, der zu Mr. Cotton möchte.«
Der Professor blickte fragend zu mir. Ich stand auf und sagte: »Wahrscheinlich ist es der Chef unserer Presseabteilung, der das erbetene Bild bringt. Ich werde naehsehen.«
Zusammen mit dem Mädchen ging ich hinaus. Tatschächlich stand Bill vor der Haustür.
»Hallo, Jerry«, sagte er. »Wie sieht’s aus?«
Ich zuckte die Achseln.
»Wie soll’s aussehen? Wir sind dabei, eine Liste aller anzulegen, die das Mädchen gekannt haben müssen. Sie enthält bereits weit über hundert Namen, und es sind noch keineswegs alle.«
»Wenn ihr die alle überprüfen wollt, braucht ihr ein paar Monate.«
»Vielleicht auch Jahre«, seufzte ich. »Es sei denn, wir kriegen hundert Kollegen zur Unterstützung. Komm herein, Bill. Hast du das Bild bei dir?«
»Selbstverständlich, hier!«
Er klopfte auf seine Aktentasche, während er über die Schwelle trat. In der Diele legte er seinen Mantel und den Hut ab, und ich führte ihn in die Bibliothek. Die Vorstellung übernahm Bill selbst, denn ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie sein Familienname war. Seit Jahr und Tag gingen wir nun schon aneinander vorbei, wenn wir uns im Distriktgebäude begegneten, schüttelten uns die Hand und wechselten ein paar Worte miteinander, aber ich kannte noch nicht einmal seinen Familiennamen. Freilich war ich nicht der einzige, dem es so ging. Bill hieß im ganzen Hause eben nur Bill.
Nachdem er sich dem Professor vorgestellt hatte, öffnete er seine Tasche und legte das Bild auf den Schreibtisch.
Ich sah sofort, daß es eine Bekannte war. Der Professor schluckte und sagte heiser: »Das ist Margret Verhull, eine Freundin von Lizzy. Ich glaube, sie war sogar ihre beste Freundin, wie man so sagt.«
Phil sah mich an. Ich sah Phil an. Also doch! dachten wir beide. Jemand aus dem Bekanntenkreis! Denn daß ein Mörder rein zufällig an zwei verschiedenen Tagen seine Hand an zwei Mädchen legte, die Freundinnen Waren, das war in einer Millionenstadt wie New York ziemlich unwahrscheinlich.
Es war die zweite vernünftige Spur, die wir in diesem Fall bekamen. Die erste hatten wir schon verpaßt. Aber das wußten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
***
Es wurde eine verrückte Nacht, wie wir selten eine erlebt hatten. Sicher, wir hatten schon Nächte durchstehen müssen, in denen heiße Bleikugeln durch die Luft gepfiffen waren, Nächte, in denen es von Stahlmantelgeschossen nur so schwirrte, auch Nächte, in denen unsere Fäuste so strapaziert wurden, daß wir tagelang verharschte Knöchel hatten — aber in dieser Nacht wurden einfach unsere Nerven strapaziert. Wenn geschossen wird, kann man zurückschießen, wenn geschlagen wird, kann
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