005 - Die Melodie des Todes
windige Glücksritter verleiten ließ. Er hätte dich nicht gezwungen! Nein, wahrhaftig nicht!« Sie lachte bitter. »Er hätte dich den Chauffeur heiraten lassen, wenn dein Herz es gewünscht hätte. Alles an ihm war liebenswürdige Schwäche, unfähige Gutmütigkeit. Ich hasse deinen Vater!«
Das kalte Funkeln ihrer blauen Augen legte allerdings ein so beredtes Zeugnis von ihrem Haß ab, daß das Mädchen schauderte. »Ich hasse ihn jedesmal von neuem, wenn ich mit einem zweifelhaften Makler verhandeln muß, um aus seinen Börsenerfahrungen einen Vorteil herauszuschlagen; ich hasse ihn wegen jeder Sparsamkeit, die ich mir auferlegen muß; ich hasse ihn immer wieder, wenn meine knappen Dividenden eintreffen und ich ansehen muß, wie sie durch die Folgen seiner Torheit verschlungen werden. Sieh dich vor, daß ich dich nicht auch noch hasse!«
Edith duckte sich vor diesem Schwall von Worten, aber die Schmähungen ihres toten Vaters erweckten gleichzeitig ein Gefühl in ihr, das ihr alle Furcht nahm.
Voll aufgerichtet blickte sie ihrer Mutter in die Augen. »Über mich kannst du sagen, was du willst, Mutter«, erwiderte sie ruhig. »Aber meinen Vater lasse ich nicht beschimpfen. Ich habe alles getan, was du verlangt hast: Ich bin bereit, einen Mann zu heiraten, den ich zwar als liebenswürdigen und sympathischen Menschen schätze, der mir aber nicht mehr bedeutet als der erstbeste, der mir heute auf der Straße begegnet. Ich bringe dir zuliebe dieses Opfer. Verlange aber nicht von mir, daß ich den Glauben an den Mann aufgebe, der die einzig liebenswerte Erinnerung meines Lebens ist.« Ihre Stimme bebte ein wenig.
Frau Cathcart hätte eine ganze Menge darauf zu erwidern gewußt, wurde aber durch den Eintritt eines Dieners daran gehindert.
Einige Augenblicke standen sich Mutter und Tochter schweigend gegenüber. Dann drehte sich Frau Cathcart ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und schritt hinaus.
Das Mädchen wartete noch einen Moment, dann ging es in die Bibliothek zurück, durch die Gilbert hinausgeeilt war. Sie verschloß die Tür hinter sich und knipste das Licht an. Am liebsten hätte sie vor zorniger Empörung geweint.
Zwar wußte Edith, daß kein besonders zärtliches Verhältnis zwischen ihren Eltern bestanden hatte, aber nach den bisherigen Erfahrungen in ihren Gesellschaftskreisen war das nichts Erstaunliches. Sie kannte eine ganze Reihe solcher Ehen, bei denen zwischen den Eheleuten kaum mehr als freundschaftliche Beziehungen vorhanden waren, und sie hatte solche Verhältnisse als normal hingenommen. Diese Erfahrungen hatten sie auch mit ihrer Verheiratung mit Gilbert ausgesöhnt. Ihr Leben mit ihm würde nicht schlechter, wahrscheinlich sogar angenehmer sein als das Zusammenleben der Leute, mit denen sie täglich in Berührung kam.
Aber die Heftigkeit ihrer Mutter gab ihr plötzlich die Erkenntnis, was zu einer wahren Ehe gefehlt hatte. Sie wußte nun, warum aus ihrem Vater, einem frohen, liebenswürdigen Mann, ein schweigsamer, trübsinniger Mensch geworden war.
Jetzt hatte ihr Lebensweg plötzlich eine andere Richtung bekommen; ein unerwarteter Ausblick tat sich auf einmal vor ihr auf. Es machte sie ruhiger und sicherer. In diesen wenigen Minuten nachdenklicher Sammlung, als sie in der nüchternen Bibliothek stand und durch die vergitterten Scheiben auf die dunkle Gasse hinter dem backsteingepflasterten Hof blickte, empfand sie eine jener großen inneren Umwälzungen, die sich manchmal im Menschen vollziehen.
Sie war selbst überrascht über die Gelassenheit, mit der sie in das Empfangszimmer zurückkehrte und sich unter die Gesellschaft mischte. Es erschreckte sie selbst, zu entdecken, daß sie ihre Mutter ruhig und gleichgültig musterte, als gehöre sie gar nicht zu ihr. Frau Cathcart fiel die Selbstbeherrschung des Mädchens auf, und sie fühlte eine leise Unsicherheit.
In der Hoffnung, sie in Verlegenheit zu bringen, wandte sie sich unerwartet an sie und war ein wenig verblüfft über die Gefaßtheit, mit der Edith ihrem Blick begegnete, und über die kühle Art, mit der sie Einwendungen gegen einen Vorschlag von ihr machte.
Das war eine neue Erfahrung für die herrschsüchtige Frau Cathcart. Das Mädchen konnte wohl mitunter schlechter Laune sein, aber dies war eine besondere Art von Trotz, wie ihn Frau Cathcart noch nicht erlebt hatte.
Vielleicht war sie zornig, aber man sah ihr nichts davon an; vielleicht gekränkt - dann hätte sie Tränen vergossen. Doch Frau Cathcarts
Weitere Kostenlose Bücher